Der Bruder und Grunthor hatten sich schon bis auf fünfzig Schritt dem Ende der Gasse genähert, als ein Straßenmädchen um die Ecke gerannt kam, verfolgt von einer Hand voll polternder Büttel. Die beiden Männer mussten im Schatten eines Mauerwinkels in Deckung gehen.
Vor dem Federhut trat Rhapsody auf die Straße hinaus und sah sich um, gefasst darauf, den einen oder anderen Strolch aus Michaels Lumpenpack in der Nähe zu entdecken.
Das Gasthaus lag an der Königsstraße, einem der Hauptverkehrswege von Ostend. Auf der lärmenden Straße wimmelte es von Menschen und Fuhrwerken. Weil niemand zu sehen war, der zu seiner Bande gehörte, überquerte sie die Straße und umging die Pfützen, die das Gewitter der vergangenen Nacht zurückgelassen hatte.
Mitten auf der Straße traf sie auf Pilam, den Bäcker, der sich mit einem schwer beladenen und mit Sackleinen abgedeckten Handkarren abplagte. Wie ein Felsbrocken in der Strömung zwang er die Menge, auseinander zu gehen und einen Bogen um ihn zu schlagen. Sein Glatzkopf war rot vor Anstrengung und schweißnass, doch als er sie sah, ging ein Leuchten über sein Gesicht.
»Rhapsody! Wie geht’s dir an diesem herrlichen Nachmittag?«
»Hallo, Pilam. Lass dir helfen.« Sie eilte herbei, packte mit beiden Händen zu und hievte den Karren aus der Furche, in der eines seiner Räder stecken geblieben war. Um ihn wieder in Bewegung zu bringen, schob Pilam allzu kräftig an, sodass ein Stapel Fladenbrote über den Rand kippte. Er fing eines davon auf und reichte es dem Mädchen, das ihn noch ein Stück Wegs begleitete.
»Nimm das hier, Liebes, als Dank für deine Hilfe.«
»Das ist nett von dir. Vielen Dank«, sagte Rhapsody und schenkte ihm ein Lächeln, das ihm die Knie weich werden ließ.
Sie packte das Brot in ihre Tasche und sah sich wieder um.
Dass sie mit ihren goldenen Haaren in der Menge auffiel, kam ihr zupass, denn je mehr Zeugen sie vom Federhut weggehen sahen, desto weniger musste sie sich um Barney und Dee Sorgen machen. Vor der nächsten Querstraße angelangt, fiel ihr Blick auf eine vertraute Gestalt, die sich intensiv mit einem Stadtbüttel zu unterhalten schien. Schnell zog sie die Kapuze über den Kopf und ging hinter einer Reihe Fässer in Deckung, die vor dem Geschäft eines Bogenmachers standen. Von ihrem Versteck aus konnte sie beobachten, wie sich ein zweiter Büttel in die Unterhaltung einschaltete. Nach einer Weile gingen alle drei schnellen Schritts die Straße entlang, Richtung Federhut. Rhapsody kamen erste Bedenken, als sich die Männer auf das Gasthaus zu bewegten und unterwegs einzelne Passanten aufhielten und befragten. Die ersten drei oder vier schienen keine Auskunft geben zu können, aber dann gerieten sie an eine Frau, die auf ihre Fragen eifrig nickte und auf die Straße zeigte, ungefähr dorthin, wo Rhapsody sich versteckt hielt. Es erleichterte sie, dass die Männer vor dem Federhut kehrtmachten und nun in ihre Richtung liefen. Sie zog die Kapuze tief ins Gesicht und bog in die Querstraße ein.
Mit der Königsstraße verließ sie das Geschäftsviertel und gelangte in ein Wohngebiet mit engen Gassen. Rhapsody kannte sich hier sehr gut aus; es boten sich ihr jede Menge Versteckmöglichkeiten. Sie hatte schon fast das Ende der ersten Häuserzeile erreicht, als aus dem Hintergrund Geschrei ertönte.
Sie fuhr herum und sah ein Dutzend Wachmänner und Büttel mit langen Schritten und gezückten Waffen hinter sich herlaufen. Rhapsody staunte nicht schlecht darüber, dass jetzt auch Wachen der Stadt zu Michaels Befehlsempfängern zählten. Jedenfalls war dies noch nicht der Fall gewesen, als sie das Unglück gehabt hatte, geschäftlich mit ihm zu verkehren – vor nunmehr fast drei Jahren. Barney hatte offenbar Recht mit seiner Warnung vor Michaels gewachsenem Einfluss. Die Sache schien brenzliger zu werden als angenommen.
Geduckt und die Kapuze tief im Gesicht, hastete sie um die Ecke, die Gasse entlang und auf ein Gässchen zu, das zwischen einem offenen Schuppen mit Strohdach und einem zweigeschossigen Haus aus Lehmziegeln hindurchführte. In einem Aushub unter dem Strohdach lagerten Rüben. Rhapsody quetschte sich an dem Loch vorbei und wühlte sich in einen Haufen Stroh, das vom Dach herabgerutscht war. Von ihrem Versteck aus waren die Männer gut zu hören; dann kamen sie auch in Sicht, zumindest einige von ihnen. Die Meute hatte sich offenbar in kleinere Gruppen aufgeteilt, und es schien, als hätten sich dem Dutzend noch etliche mehr angeschlossen.
Eine Dreiergruppe kam um die Ecke und passierte sie im Abstand einer Armeslänge. Sie hielt die Luft an, als die Kerle Halt machten und fluchend zwischen umgekippten Holzkisten herumstöberten. Am liebsten hätte auch sie ein paar deftige Flüche ausgestoßen. Wie war es möglich, dass sie von Michaels Aufstieg zur Prominenz nichts mitbekommen hatte? Vor lauter Abscheu, den sie gegen ihn empfand, hatte sie wohl vergessen, den Verstand einzusetzen, und dieser Fehler bereitete ihr nun Probleme, auf die sie nicht eingestellt war. Aber blieb mir denn etwas anderes übrig?, fragte sie sich. Gammon gehorsam zu begleiten wäre wahrlich nicht in Betracht gekommen.
Rhapsody sah, wie einer der drei Wächter einen Klumpen Kohle zur Hand nahm und ihn mit Wucht an die Wand des Nachbarhauses schleuderte. Es dauerte nicht lange und ein Mann in Lederschürze trat mit Gebrüll vor die Tür. Zwischen den beiden entzündete sich ein heftiger Streit, den Rhapsody nutzte, um ihr Versteck zu verlassen und Reißaus zu nehmen, zurück in Richtung Querstraße, die in die Königsstraße einmündete. Sie hatte die Ecke fast erreicht, als hinter ihr jemand laut aufschrie. Auf die Königsstraße zurückzukehren war jetzt nicht mehr ratsam, denn dort gab es nirgends Unterschlupf für sie, zumal allen, die sie aufnehmen würden, Ärger drohte. Während die Büttel johlend die Verfolgung aufnahmen, näherten sich nun auch noch zwei Häscher von vorn. Sie steckte in der Klemme.
Rhapsody versuchte, in eine Seitengasse auszuweichen, wurde aber plötzlich unsanft zu Boden gerissen. Ein Wachmann hielt sie gepackt, warf sie auf den Rücken und schlug ihr ins Gesicht, wofür sie sich mit einem auf die Genitalien gezielten Pferdekuss revanchierte. Während sich der Widersacher vor Schmerzen krümmte, sprang sie auf die Füße und rannte – dem zweiten Kerl in die Arme, der sie vom Boden lupfte und in die Gasse zurücktrug, sosehr sie sich auch mit Händen und Füßen wehrte.
»In der Tat, du bist nicht gerade leicht zu handhaben«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Aber du wirst ihn bestimmt auf seine Kosten kommen lassen, nicht wahr? Wenn er’s dir gibt, Süße, dann denk an mich.«
Er versuchte ihr einen Kuss auf den Hals zu drücken und grapschte mit der freien Hand nach ihrer Brust.
Unter Aufbietung all ihrer Kräfte riss sie sich aus seinem Griff los, mit dem er ihr den Arm auf den Rücken gedreht hielt. Von dem Schmerz, der ihr dabei von der Schulter bis in die Fingerspitzen fuhr, wurde ihr übel. Aber sie unterdrückte den Brechreiz und schüttelte mit einem Schlenker den Dolch aus dem Ärmel in die Hand.
Noch hielt er sie mit dem anderen Arm von hinten gepackt, da zielte sie mit der Klinge dahin, wo sie die Augen des Gegners vermutete. Sein gellender Schrei und ihre schnelle Freigabe verrieten ihr, dass sie ziemlich genau getroffen hatte. Die drei anderen Wachen, die sich ihr auf die Fersen geheftet hatten, waren angesichts der Szene, die sich ihnen da bot, wie angewurzelt stehen geblieben. Bevor sie sich besinnen konnten, war Rhapsody auf und davon und rannte so schnell sie konnte auf die dunkleren Seitengassen zu. Während sich einer der Verfolger um den schwer verletzten Kumpan kümmerte, setzten ihr die anderen wieder nach, kaum dass sie ihren ersten Schock verwunden hatten. Sie sahen das Mädchen an zwei mit Wäschekörben bepackten Frauen vorbeiflitzen und in der nächsten Seitengasse verschwinden.