Jo fuhr in die Höhe. »Oder vielleicht war ich ihr zu lästig, ein Ärgernis, das sie nicht schnell genug los werden konnte. Du hast doch selbst keine Ahnung, Rhapsody. Schön, dass du eine gute Mutter hattest; das freut mich für dich. Aber tu mir bitte den Gefallen und erspare mir deine lieben, netten Worte. Sie helfen nicht. Und außerdem: Es ist leichter zu glauben, dass sie mich nicht geliebt hat. Dafür kann ich sie hassen, ohne mich selbst schlecht fühlen zu müssen. Wieso also sollte ich etwas anderes glauben? So lange ich denken kann, bin ich allein, und daran ändert sich nichts. Am Ende ist es ganz egal, ob sie mich geliebt hat oder nicht.« Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen.
Rhapsody nahm sie in den Arm und wiegte sie, als sie laut zu weinen anfing, streichelte über ihre Haare und stimmte ein Trostlied an, so leise, dass Jo es vor lauter Schluchzen gar nicht hörte. Doch es dauerte nicht lange, und das Lied tat seine Wirkung. Jo beruhigte sich, barg das Gesicht aber weiterhin an Rhapsodys Schulter. Schließlich nahm die Sängerin ihren Kopf zwischen beide Hände und sagte: »Hör mir zu, Josephine Ungenannt. Es hat sich schon einiges verändert. Du bist nicht mehr allein und wirst es nie mehr sein. Ich habe dich gern. Wir gehören zusammen, und ich werde dafür sorgen, dass sich manches für dich bessert.«
Jo schniefte. »Was könnte sich für mich wohl bessern?«
»Vieles. Alles, was besser werden könnte. Und es macht sehr wohl einen Unterschied: Deine Mutter hat dich geliebt. Etwas anderes wäre ihr gar nicht möglich gewesen. Nur zu, verzieh dein Gesicht und gifte mich nach Herzenslust an. An der Wahrheit ändert das nichts. Ich kann es dir nicht erklären, bin aber überzeugt davon, dass sie dich geliebt hat. Und jetzt ist sie nicht die Einzige, von der du geliebt bist.«
Jo sah ihr ins Gesicht und fing nach einer Weile zu lächeln an. Dann rückte sie ein Stück von Rhapsody ab. »Du scheinst dir ja wirklich allerhand einzubilden«, sagte sie scherzend. »Ich habe mit keinem Wort behauptet, dass mich niemand liebt.« Ein verschlagenes Grinsen überzog ihr Gesicht. Rhapsody merkte auf. »Aha. Darf ich erfahren, auf wen du dich beziehst, hmmm? Hast du mir bislang etwas verheimlicht?«
»Nein«, sagte Jo und seufzte. »Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich hoffe.«
»Und wer ist der Glückliche?«
Jo überkreuzte die Beine und drückte sich ein Kissen an den Bauch. »Ashe.«
»Wer?«
»Ashe. So heißt er.«
»Wer ist das?«
»0 Mann, hast du denn schon so viel Kalk angesetzt? Ashe. Erinnere dich, das ist der mit den schönen Haaren, aus Bethe Corbair.«
Rhapsody war sichtlich perplex. »Jo, ich habe wirklich keinen blassen Schimmer. Wen meinst du?«
Jo verdrehte die Augen. »Du weißt doch, der Kerl mit dem ... na, du weißt schon ...« Vor Verlegenheit lief sie rot an im Gesicht.
Rhapsody rätselte noch immer, erinnerte sich dann aber vage an die Begegnung mit dem verhüllten Fremden auf dem Straßenmarkt.
»Ach der!«, platzte es aus ihr heraus. Schmunzelnd beugte sie sich vor und flüsterte verschwörerisch:
»Jo, ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass so ziemlich jeder Mann einen Na-du-weißt-schon-was hat.«
»Miststück.« Jo schlug lachend mit dem Kissen auf sie ein, war aber immer noch verlegen. Rhapsody sah, dass Jo sich wieder gefangen hatte; statt sie zu necken, versuchte sie nun, sie zu ermutigen. »Woher weißt du, dass er schöne Haare hat?«, fragte sie. »Wenn ich mich recht entsinne, haben wir nicht einmal sein Gesicht gesehen. Er hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen.«
»Kann sein, dass du es nicht gesehen hast. Ich hatte allerdings einen etwas anderen Blickwinkel...«
»Das glaube ich dir gern«, lachte Rhapsody und handelte sich damit einen weiteren Rüffel mit dem Kissen ein.
»Als er mich vom Boden aufgehoben hat, habe ich einen kurzen Blick unter die Kapuze werfen können. Er hat Haare wie Kupfer, und ich meine nicht das stumpfe Braun von Münzen. Es glänzt vielmehr wie die polierten Töpfe, die der Kesselflicker an seinem Stand ausstellt. Und seine Augen sind unglaublich blau. Mehr hab ich nicht gesehen, nur die kupfernen Haare und die kristallblauen Augen. Aber das hat gereicht«, sagte sie und ließ einen übertriebenen Seufzer verlauten.
»Gütiger Himmel, Jo, stell dir vor, das wäre wirklich schon alles, was er zu bieten hätte«, entgegnete Rhapsody in aufgesetzter Sorge. »Was, wenn da unter der Kapuze bloß Haare und Augen wären und sonst nichts? Brrrr. Ein schauderhafter Gedanke. Meinst du nicht auch, es wäre besser, alles von ihm zu sehen, bevor du dir das Porzellan für die Hochzeitsfeier aussuchst?«
Jo verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte.
Rhapsody beeilte sich, die Wogen zu glätten. »Tut mir Leid, Jo. Ich bin albern. Es freut mich wirklich, dass dir jemand begegnet ist, den du gern hast. Aber im Ernst, wenn ich mich recht erinnere, hat er damit gedroht, dir die Hand abzuschneiden. Oder?«
»Nein, du wolltest ihm die Hand abschneiden«, antwortete Jo, die immer noch verärgert schien. »Zu mir war er nett. Egal, lass uns das Thema wechseln.«
Rhapsody seufzte. »Wie sehr musst du missbraucht worden sein, liebe Schwester, wenn du dich von ihm schon gut behandelt fühlst. Aber wer weiß, vielleicht ist der erste Eindruck ja wirklich der richtige. Also, wie hoch schätzt du die Chance ein, ihn wieder zu sehen?«
»Vielleicht wird nichts draus«, antwortete Jo und schwang die Beine über die Bettkante. »Aber er hat versprochen, zu Besuch zu kommen.« Sie langte unterm Bett nach dem Nachttopf.
Rhapsody wusste den Wink zu deuten. »Wir werden sehen.« Sie stand auf und wandte sich der Tür zu.
»Es sind schon weit ungewöhnlichere Dinge passiert. Wie auch immer, schlaf schön. Und wenn du dann gut ausgeruht bist, schaffst du’s ja vielleicht am Ende doch noch, ihm die Börse abzuluchsen.«
Sie zwinkerte Jo zu und öffnete die Tür.
»Gute Nacht, Schwesterherz«, sagte Jo lachend.
Rhapsody lächelte, dass Jo sich von Warmherzigkeit umarmt wähnte. »Gute Nacht, Jo.« Sie zog leise die Tür hinter sich zu, lehnte sich erleichtert und glücklich mit dem Rücken an die Wand im Flur und schlang die Arme um die Brust. Einen Augenblick später kehrte sie auf ihr Zimmer zurück, das ihr nun irgendwie heller vorkam.
56
Sie kommen.
»Ich weiß.«
Saltar erhob sich von seinem steinernen Thron und fuhr mit den Händen über die aus Granit geschlagenen Armlehnen, die jahrhundertelanger Gebrauch spiegelglatt poliert hatte. Der Thron war eines der kostbaren Relikte, die aus der eroberten unterirdischen Siedlung Willum geplündert worden waren. Das wertvollste aber war er nicht.
Seine Truppen kommen, doch der, nach dem ich Ausschau halte, ist nicht dabei.
Feuerauge schluckte, sagte aber nichts. Das Geistwesen hatte sich als große Hilfe erwiesen und ihn unverwundbar gemacht, weshalb er auch so schnell zur Macht aufgestiegen war, doch jetzt wurde es langsam lästig, denn es ließ sich nicht mehr abschütteln.
Feuerauge nahm die Kette vom Hals und starrte versonnen in das von goldenem Feuer umloderte Auge, das Symbol, dem er seinen Schamanennamen verdankte, unter dem er bei den Bolg bekannt war und der für gewöhnlich nur getuschelt wurde.
Das Medaillon hatte über Jahrhunderte in einer großen Truhe ganz zuunterst gelegen. Die Bolg des Verborgenen Reiches hatten es nicht anzurühren, geschweige denn in Anspruch zu nehmen gewagt. Selbst die kühnsten Jäger aus seinem Klan namens Faust-und-Feuer waren davor zurückgeschreckt. Nur er hatte den Mut aufgebracht, das goldene Abzeichen aus der Truhe zu holen und es sich um den Hals zu hängen. Und zu sehen, wie andere entsetzt davor zurückwichen, konnte ihn nur erheitern. Es war ihm nie verwunderlich erschienen, dass die Willumer einen so kostbaren und machtvollen Gegenstand unter einem Haufen von Lumpen versteckt hatten, zusammen mit zwei kleinen Alabasterlöwen und einer Brosche aus Perlmutter, Dingen, die, obwohl nie angetastet, plötzlich verschwunden waren, als er das Feuerauge aus der Truhe genommen hatte. Seitdem waren zwanzig Jahreszeitenzyklen vergangen.