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Das Geistwesen hatte sich ihm sofort zu erkennen gegeben. Es war ihm in Dunkelheit erschienen, als Spiegelbild seiner selbst, das ihn in Angst und Schrecken versetzt hatte. Die Worte, die es sprach, waren anfangs kaum zu hören gewesen, doch mit der Zeit hatte er sich an die stumme Stimme gewöhnt. Es hatte es auf den Namen Saltar getauft.

Saltar?

Feuerauge blickte wieder auf und suchte in der Dunkelheit nach dem unsichtbaren Gespenst, das von den Mitgliedern anderer Klans als Geist bezeichnet wurde. Deren Angst vor ihm war fast so groß wie seine. Es sprach ihn jetzt an, gerade so wie damals. Und plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»Ich weiß, wie man ihn da rausholen könnte«, sprach er in die Luft.

Schweigen.

»Diesmal musst du kämpfen«, sagte Saltar und hängte die Kette wieder um den Hals. »Dann wird er kommen.«

Die Luft knisterte. Ein heißer Schwall ging durch den Raum.

Ja.

Emmy.

Beim Klang der Stimme ihrer Mutter, die sie im Herzen hörte, gingen ihr die Augen über. Schon träumend, aber noch halb wach, wehrte sie sich gegen die dräuende Vision. So fingen ihre Albträume stets an, einlullend, um dann umso schmerzlicher zu enden.

»Nein«, flüsterte sie im Halbschlaf. »Bitte.«

Sanft legte sich ihr eine Hand auf die Stirn.

Nicht weinen, Emmy. Das lächelnde Gesicht der Mutter näherte sich ihr, verschwommen hinter dem Schleier aus Tränen.

Seufzend ergab sie sich dem Schlaf. »Mama.«

Dein Haus gefällt mir, Emmy, vor allem mit den Kerzen. Die Butter sah sich anerkennend um, und während sie sprach, tauchten winzige Lichtpunkte in der Dunkelheit auf. Im Kerzenlicht wird die einfachste Hütte zum Palast.

»Mama...«

Komm ans Feuer und lass mich dein Haar bürsten wie früher.

Rhapsody spürte warmes Blut ins Gesicht schießen. Sie stand auf und folgte der Mutter zum offenen Kamin. Darin tanzten und sprangen die Flammen ohne Unterlass.

Zarte Hände und harte Zinken fuhren ihr durchs Haar.

Erinnerst du dich, Kind?

»Ja«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. »Mama ...«

Pssst. Die Mutter langte ins Feuer. Komm, greif hinein. Ich kann sie dir nicht geben. Ich bekomme sie nicht zu fassen. Du musst sie dir schon selbst nehmen.

Sie streckte die Hand in die lodernden Flammen, spürte ihre Hitze, empfand aber keinen Schmerz. Ihre Finger schlössen sich um einen glatten, kühlen Gegenstand. Sie zog ihn aus dem Feuer, das plötzlich verlosch, bis auf eine kleine Flamme, die um die Klinge des Schwertes züngelte, das sie in der Hand hielt.

»Die Tagessternfanfare«, murmelte sie.

In der Gestalt von damals, ehe sie unserem Land weggenommen und dem Licht Serens entzogen wurde. Schau, wie sie früher ausgesehen hat.

Rhapsody musterte die Waffe von allen Seiten und fuhr prüfend mit dem Finger über die silbrige Klinge.

»Ich erkenne keinen Unterschied zur jetzigen Gestalt.«

Sieh genauer hin.

Sie wendete das Schwert in den Händen und entdeckte dann, unmittelbar über der Querstange, ein kleines weißblaues Licht, das heller als die Sonne leuchtete und von silbernen Zinken ein-gefasst war.

»Das Licht ist verschwunden«, sagte Rhapsody, »die Fassung leer. Was hat in ihr gesteckt?«

Ein Sternsplitter von Seren. Eine Quelle großer Macht, die auf die Vorzeit zurückgeht und von elementarer Magie ist. Dein Stern, Emmy.

»Aria«, flüsterte sie. Mein Leitstern.

Ja, mein Kind, antwortete die Mutter und zeigte auf die dunkle Stelle am Himmel, wo einst Seren geleuchtet hatte. Ich habe dir vor langer Zeit gesagt: Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren gehen. Du hast es vergessen.

»Nein, Mama, nein. Ich erinnere mich.« Sie schnappte nach Luft.

Und warum hast du dich verirrt?

»Ich ... ich habe den Stern aus den Augen verloren, Mama. Seren ist verschwunden, so auch Serendair, untergegangen vor tausend Jahren.«

Die Insel ist verschwunden, aber der Stern steht nach wie vor am Himmel.

»Mama...«

Schau! Die Mutter zeigte zum Himmel empor, wo plötzlich ein winziger Lichtpunkt aufleuchtete, herausgebrochen aus Seren, ein Splitter, der kometengleich durch die Dunkelheit stürzte. Gleichzeitig erlosch das Licht im Heft des Schwertes; die Zinken waren wieder leer.

Rhapsody folgte dem Fingerzeig der Mutter. Es schien fast, als hielte sie den Stern auf seiner abschüssigen Bahn.

Im Dunkeln sah sie nun einen Tisch oder eine Art Altar vor sich, auf dem, von Dunkelheit umflort, der Leichnam eines Mannes ausgestreckt lag. Es waren nur die Umrisse zu erkennen. Der winzige Stern fiel auf den Körper und ließ ihn für einen kurzen Augenblick strahlend hell aufleuchten, um dann allmählich zu verglimmen. Entsetzt dachte Rhapsody zurück an ihre Vision im Haus der Erinnerung.

Dort ist der Splitter hingeraten, Kind, auf Gedeih oder Verderb. Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren gehen.

Selbst im Schlaf erkannte Rhapsody, dass mit der Vision etwas nicht stimmte. In Träumen von den Eltern oder anderen Personen aus der Vergangenheit vermittelten sich ihr sonst nur Einsichten über bereits Geschehenes. Visionen von der Zukunft waren in der Regel ohne Bezug zu denjenigen, die sie liebte und die mit der Insel untergegangen waren. Doch hier sah sie nun ihre Mutter, wie sie ihr Dinge mitteilte, die sie zu ihren Lebzeiten gar nicht hatte wissen können.

»Woher weißt du das alles, Mama?«

Ihr war wohl und warm in den Armen der Mutter.

Weil es wie ich selbst Teil deiner Erinnerungen ist. Es ist dir nur noch nicht bewusst. Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren gehen. Nie.

Der leuchtende Leichnam auf dem Altar verglühte und verschwand im Dunkeln.

»Ich kann ihn nicht mehr sehen, Mama. Warum nicht?«

Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.

Rhapsody wälzte sich umher und zerwühlte die Decken. »Ich verstehe nicht.«

Wirf einen Blick über die Schulter.

Rhapsody gehorchte. Hinter ihr schwebten drei Augen in der Dunkelheit. Zwei davon waren blutrot umrandet und steckten in einem dunklen Gesicht. Das dritte Auge hing darunter in der Mitte eines flammenden Feuerballs. Rhapsody fing an zu zittern.

»Mama?«

Denk an meine Worte, Emmy. Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt. Die Flammen des Feuerballs griffen weiter um sich, bis sie ihren ganzen Gesichtskreis ausfüllten. Als sie zurückblickte, sah sie die Mutter vom Feuer eingeschlossen. Entsetzt streckte Rhapsody die Arme nach ihr aus.

»Mama!«

Die Mutter lächelte ihr zu, obwohl sie von den Flammen verzehrt wurde und schließlich verkohlte.

Deine Familie ist im Feuer umgekommen, Emmy.

»Mama!«

Feuer hat eine große Kraft, aber noch größer ist die Kraft des erstgeborenen Sternenfeuers. Nutze das Feuer der Sterne, um dich und die Welt von dem Hass zu läutern, der von uns allen Besitz ergriffen hat. Dann werde ich in Frieden ruhen können, bis du mich wiedersiehst.

»Mama, nein! Bitte, komm zurück!«