Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt. Die Stimme hallte noch eine Weile nach und war dann verklungen.
»Rhaps?«
»Nein«, stöhnte Rhapsody und griff verzweifelt in die Dunkelheit, in die sich der Traum auflöste.
»Rhaps, alles in Ordnung?«
Sie richtete sich im Bett auf und wischte sich mit dem Ärmel des Nachthemds die Tränen vom Gesicht. Im Türausschnitt zeichnete sich Jos Silhouette ab.
»Ja«, antwortete sie. »Tut mir Leid, Liebes. Hab ich dich geweckt?«
Jo kam herbei, setzte sich aufs Bett und umarmte sie.
»Nein, das hat Grunthor getan. Man braucht dich unten in der Krankenstation.«
57
Die Sanitäter trugen immer noch einen Verwundeten nach dem anderen herbei, als Rhapsody mit ihrem Medizinbeutel eintraf, noch im Nachthemd und mit offenem Haar, das ihr ungebändigt über die Schultern fiel. Sie lief auf Grunthor zu, der gerade einen seiner Soldaten auf ein Feldbett legte.
»Was ist passiert, Grunthor? Hast du was abgekriegt?«
Der Riese nahm dem Verletzten den ledernen Brustharnisch ab, unter dem eine schreckliche Wunde zum Vorschein kam, die sich vom Hals bis zur Taille erstreckte.
»Mir geht’s gut, Herzchen, aber unsern Freund Warz hier hat’s böse erwischt«, antwortete der Sergeant mit sorgenvoller Stimme.
Rhapsody öffnete ihren Beutel. Was es hier für sie zu tun galt, war ihr schon fast zur Routine geworden, doch so viele Patienten auf einmal hatte sie noch nie versorgen müssen. Da schien etwas Schreckliches vorgefallen zu sein.
»Saubere Kompressen und Pipsissewa, bitte«, sagte sie zu Krinsel, der Hebamme, die ihr zu Hilfe eilte.
Grunthor erschrak, als er hörte, dass sie nach dem Kraut verlangte. Er wusste, dass man es Sterbenden gab, um deren Schmerzen zu lindern.
»Ist er nich mehr zu retten, Gräfin?«
»Ich fürchte nein, Grunthor. Sogar das Herz ist verletzt.« Sie nahm die von der Amme gebrachten Tücher und versuchte, die Blutung zu stillen. »Aber wir werden dafür sorgen, dass er sich nicht quälen muss.«
»Hoheit?«, flüsterte der Bolg-Leutnant.
Rhapsody blickte ihn mit freundlicher Miene an. »Ja?«
»Das ham Feuerauge und sein Klan angerichtet.«
Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte. »Ruh dich aus«, sagte sie leise.
Der sterbende Soldat zwinkerte mit den Augen und suchte ihren Blick. »Feuerauge ... Bolg ... nennen ihn so, aber ... sein Name ist... Saltar.«
Sie ließ sich von der Amme das Kraut geben. »Ich werde es dem König melden.«
»Hoheit?«
Sie verabreichte ihm das Kraut. »Ja?«, fragte sie sanft und sah, wie es mit ihm zu Ende ging.
»Wie ... der Sonnenaufgang ... seid Ihr.« Die Augen des Leutnants brachen.
Rhapsody schluckte. Sie beugte sich herab, drückte einen Kuss auf die verschwitzte Stirn und spürte, wie sich die Falten glätteten. Die Lippen dicht an seinem Ohr, sang sie den Anfang des lirinschen Geleitliedes, das nach alter Tradition während der Einäscherung gesungen wurde, um den Toten zu helfen, sich von der Erde zu lösen und ins Licht aufzusteigen.
Der Lärm und die Schreie wurden immer lauter und machten es ihr unmöglich, den Gesang fortzusetzen. Soldaten und Sanitäter trugen mehr und mehr Verwundete herbei. Es war eine schaurige Parade der Toten und Sterbenden, und sie schien kein Ende nehmen zu wollen.
»Gütiger Himmel«, raunte Rhapsody. Das Blut Dutzender Soldaten ergoss sich über den Boden, und in der Luft hing der Gestank verbrannten Fleisches. Sie sprang auf und hastete mitten ins Gewimmel. Achmed stand in der Vorhalle und half, dem Ansturm des Grauens Herr zu werden. Den Verletzten, die sich noch auf den Beinen halten konnten, wies er den Weg zu den behandelnden Sanitätern. Die auf Tragen gebracht wurden, untersuchte er flüchtig, und ließ diejenigen, die ihren Verletzungen schon erlegen waren, aus der Krankenstation herausschaffen. Von der Schlacht selbst hatte Achmed nichts mitbekommen; umso finsterer war sein Gesichtsausdruck.
Rhapsody nahm einem Soldaten, der selbst verletzt war und am ganzen Körper zitterte, einen Kameraden aus dem Arm, den sie ein paar Schritte weiter aus dem Gedränge schleppte und auf einer freien Stelle am Boden ablegte. Grunthor kümmerte sich um den anderen.
»Was ist passiert?«, fragte sie wieder, während sie die Rüstung des Verwundeten öffnete.
»Wir ham ein ganz friedliches Manöver durchgeführt«, antwortete der Riese und schnürte seinem Patienten einen Wickel um den Oberschenkel, um das Blut zu stauen.
»Das sieht man.«
»Ich mach keine Witze, Gräfin«, blaffte der Sergeant. »Normale Routine: Rekruten ausheben und sehn, was sonst noch zu holen ist. Sind ziemlich weit ins Verborgene Reich vorgedrungen. Warz und Ringram hatten das Vorauskommando. Sei bloß froh, dass du keinen von denen zu sehen brauchst, die wir nicht mehr ham bergen können.«
Rhapsody schüttelte sich und wickelte den provisorisch angelegten Verband ab.
»Räpsdii?«
Sie blickte auf und sah Krinsel zitternd vor sich stehen. Rhapsody kannte die Amme als eine eher hartgesottene, unerschütterliche Person, der nie auch nur die geringste Regung vom Gesicht abzulesen war. Jetzt aber rang sie merklich um Fassung.
»Krinsel?«, fragte sie und sprang auf, um sie zu stützen.
»Komm mit.«
Rhapsody und Grunthor folgten ihr durch das Chaos aus Schlachtopfern und stiegen vorsichtig über Schwerverletzte und Tote hinweg.
Krinsel führte sie in einen entlegenen Winkel der Krankenstation. Der Gestank von versengtem Fleisch war unerträglich. Rhapsody hielt sich die Hand vors Gesicht in der vergeblichen Absicht, die Luft zu filtern.
Jedes Opfer, das man hierher geschafft hatte, war von Schwertwunden grausam entstellt. Rhapsody traute ihren Augen kaum, so unglaublich schien die Szene, die sich ihr bot.
»Achmed!«, rief sie und suchte nach Lebenszeichen unter denen, die da lagen. Wie sich herausstellte, war nur noch einer am Leben und hielt verzweifelt am Bewusstsein fest.
Wenig später war der König an ihrer Seite. Er sah mit an, wie Grunthor die Gefallenen herumdrehte und deren Verletzungen untersuchte.
»Sieh dir das an«, sagte Rhapsody und zeigte auf den letzten Überlebenden, auf dessen Rücken eine schauderhafte Wunde klaffte. Vorsichtig betupfte sie das rohe Fleisch mit einer Lösung aus Thymianextrakt und destilliertem Wasser. Die Ränder der tiefen, breiten Wunde waren blutleer und wie verödet, wie von einem scharfen Brandeisen zugefügt. Das Gewebe schmorte noch.
Achmed ging neben ihr in die Hocke. »Was hältst du davon?«
»Ich weiß nicht, aber solche Wunden schlägt die Tagessternfanfare«, antwortete sie und zog schnell die Hand zurück, als der Verwundete vor Schmerzen aufstöhnte.
»Nur deutlich tiefer und breiter«, erwiderte Achmed.
»Für mich sieht’s aus, als war da ’ne Klaue Reingefahren«, sagte Grunthor.
Rhapsody warf einen Blick auf Krinsel, die mit kreidebleichem Gesicht dastand und in Ohnmacht zu fallen drohte.
»Was meinst du, Krinsel? Hast du eine Ahnung, was solche Wunden geschlagen haben könnte?«
Die Bolg-Frau nickte; sie hielt die Arme krampfhaft um den Leib geschlungen.
»War der Geist. Feuerauges Geist.«
Rhapsody blieb auf der Krankenstation bis zum Abend des folgenden Tages, als alle Verwundeten versorgt und die Toten in die Krypta nahe der großen Esse gebracht worden waren. Die fir-bolgschen Sanitäter und Ammen kümmerten sich um die Patienten, wie es die Filiden in Khaddyrs Hospital nicht besser gekonnt hätten.
Sie hatte Jo bei Grunthor zurückgelassen, der darauf bestand, bei den verletzten Männern zu bleiben. Er sprach kaum ein Wort und hatte einen Ausdruck in den Augen, den er immer dann annahm, wenn er von seinen Truppen aus der alten Welt erzählte; jetzt aber schien dieser Ausdruck noch intensiver zu sein. Rhapsody hatte ihn zu trösten versucht – vergebens. Der Riese war nur noch verschlossener geworden. Er hatte sich darauf versteift, Wache zu halten, und war davon nicht abzubringen gewesen. Und so hatte sie ihn allein gelassen und Jo gebeten, ihn im Auge zu behalten.