Obwohl sie nichts sehnlicher wünschte als ein ausgiebiges Seifenbad in Anwyns Wanne, zog sie den Gürtel ihres blutdurchtränkten Kittels enger und steuerte auf den Stollen zu, der hinaus auf die Verdorrte Heide führte.
Die Nacht brach herein. Dunkelheit breitete sich über dem bleichen, mit rötlichen Flecken verschmierten Himmel aus. Die Wolken wirbelten gleich einer Spirale dem Horizont entgegen, wie ein Sinnbild für ihre aus den Fugen geratene Welt. Nur halbherzig sang sie ihren Nachtgesang, fand keinen Trost darin und hoffte, die Angst, die sie verspürte, in Schach zu halten. Die Bolg hatten Schreckliches erleiden müssen.
Achmed saß genau da, wo sie ihn vorzufinden erwartet hatte: vorm Stollenausgang, von wo aus man die Schlucht und die Heide dahinter überblicken konnte. Von dieser Stelle aus war er seinen Untertanen zum ersten Mal gegenübergetreten, um seine Herrschaft zu proklamieren. Er hockte auf der Felskante und ließ die Beine über dem mehr als hundert Klafter tiefen Abgrund baumeln. Sein Blick war starr auf den Horizont jenseits der Heide gerichtet.
Rhapsody nahm an seiner Seite Platz, und gemeinsam schauten sie zur Sonne hin, die schnell hinterm Rand der Welt wegtauchte, als schämte sie sich, über ihre Zeit hinaus noch am Himmel zu sein. Mit ihrem Verschwinden kam ein kühler Wind auf, der heulend durch die Schlucht fuhr und Rhapsodys Haare wehen ließ.
Als sich die Schatten vollständig über das Reich der Firbolg gesenkt hatten, gab Achmed endlich einen Laut von sich und sagte: »Danke, dass du es dir verkniffen hast, die Stille mit wohlmeinenden Worten aufzufüllen.« Rhapsody schmunzelte und blieb stumm. Der Kriegsherr gab einen tiefen, schmerzlichen Seufzer von sich. »Hat Grunthor schon etwas erzählt?«
»Nein, noch nicht.«
Achmed nickte versonnen; in Gedanken war er auf der anderen Seite der Zeit. »Er hat Ähnliches schon einmal durchgemacht, vielleicht Schlimmeres. Er wird’s überstehen.«
»Daran zweifle ich nicht.« Sie musterte sein Gesicht, in dem tiefe Sorge und Kummer standen. Vielleicht sogar Furcht, doch davon ließ er sich nichts anmerken. »Einer seiner Leutnants hat mir, kurz bevor er starb, etwas mitgeteilt.« Achmed wandte sich ihr zu. »Was?«
Sie strich eine Locke zurück, die ihr der Wind vor die Augen geblasen hatte. »Er nannte Feuerauges Namen, den richtigen, glaube ich.« Achmed kniff die Brauen zusammen, sagte aber nichts. Sie hüstelte nervös. »Er sagte, sein Name sei Saltar.« »Ja, ich weiß.«
»Sagt dir der Name etwas? Kannst du ihn mit irgendeinem anderen Namen in Verbindung bringen?«
»Ja. Mit Tsoltan.«
Rhapsody atmete hörbar aus. Die nervöse Anspannung legte sich. »Es kann wohl kaum überraschen, dass du Bescheid wusstest.«
»Ich wusste nicht Bescheid, habe aber damit gerechnet. Auf diesen Tag habe ich gewartet, seit wir der Wurzel entstiegen sind.« In der Ferne sah er den Wind durch die Sträucher der Heide fahren. »Über die Ironie des Universums staune ich immer wieder aufs Neue«, sagte er wie im Selbstgespräch, und seine Stimme war ohne jede Spur von Sarkasmus. Er nahm einen Stein vom Boden auf und befingerte ihn, in Gedanken versunken. »Was soll das heißen?«, fragte Rhapsody leise. Wieder richtete Achmed den Blick in die Ferne, als versuchte er, in die Vergangenheit zu schauen.
»Zeit meines Erwachsenenlebens war ich ein Kämpfer und als solcher sehr gut. Man hat mich erzogen mit dem Ziel, den brutalen Feldzügen und dem Völkermord der F’dor Einhalt zu gebieten. Das hat mich ähnlich brutal gemacht.
Zur Geburt bekam ich ein Geschenk, nämlich eine Blutsbande, die mich mit allen anderen Menschenwesen verbrüderte. Ich habe dieses Geschenk im Namen des Todes genutzt, das heißt, ich zog allein in unserem Land umher, spürte die Herzschläge anderer auf, stellte ihnen nach und ließ Blut vergießen, anstatt mich mit anderen zu verbinden. Ich war ebenso wenig aufzuhalten wie der Lauf der Zeit, Rhapsody. Wer mir entrinnen wollte, fand Zuflucht nur auf dem Meer.
Und jetzt bin ich hier, auf der anderen Seite der Zeit. Ich habe alles zurückgelassen, sogar die natürlichen Waffen, die ich hatte, und versucht, dem einen Verfolger zu entkommen, gegen den ich nie eine Chance hatte, nämlich mir selbst. So wie ich nie einen Kampf verloren habe, verliert auch der F’dor nie. Falls er tatsächlich einmal unterliegen sollte, ergreift er von dem Sieger Besitz und macht ihn zu seinem neuen Wirt. Er gewinnt also immer. Es ist besser, man stirbt durch seine Hand, als dass man ihn in der eigenen Gestalt leben lässt. Ich für mein Teil bin mir nicht sicher, ob ich nicht so oder so an ihn gebunden bin. Ich hätte wissen müssen, dass diese Welt nicht groß genug ist, um als Versteck vor ihm dienen zu können – vor mir selbst. Die Lawine ist ausgelöst und in Bewegung. Ich werde sie nicht aufhalten können.«
Rhapsody sagte nichts und legte ihre Hand in seine. Achmed starrte darauf.
»Und dann bist du gekommen, Rhapsody. Mit dir hat sich alles verändert. Du hast mir eingeredet, dass der F’dor keine Macht mehr über mich hätte, dass ich ihm entwischt wäre. Wie dumm von mir, auch nur einen Moment daran geglaubt zu haben, wo ich doch selbst der Vollstrecker des Unausweichlichen bin. Es war nur eine Frage der Zeit, dass er mich wieder finden würde.« Er warf den Stein, den er in der Hand hielt, in den Abgrund.
»Das ist noch nicht sicher«, entgegnete Rhapsody leise. »Vielleicht hast du ihn zurückgeschlagen. Vielleicht bist du ja immer noch sein Widersacher, dazu bestimmt, ihn zu stellen und zu töten. Vielleicht wird er tatsächlich dein letztes Opfer sein. Aber in einer Hinsicht hast du Recht: Du kannst jetzt nicht mehr weglaufen. Früher oder später wird er dich finden. Pass nur auf, dass du ihm nicht den Rücken zukehrst.«
»So kann nur jemand reden, der keine Ahnung davon hat, was ich für Folgen tragen muss«, knurrte er und zog seine Hand zurück.
»Wie dem auch sei, was mir droht, weiß ich. Ich könnte meine Angehörigen verlieren, die mir in dieser Welt noch geblieben sind, im Besonderen meinen problematischen Bruder, die Kehrseite meiner Münze.« Sie sah, wie sich seine Miene noch weiter verfinsterte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich davor Angst habe. Aber was auch immer geschehen mag, ich werde wie Grunthor zu dir stehen. Dafür sind Familien schließlich da.« Sie lächelte, und Achmed spürte, wie ihm trotz aller Bemühungen um eine verdrossene Miene das Herz aufging.
»Hast du gehört, was die Bolg über Feuerauges Geist munkeln?«, fragte sie.
»Ja.«
»Weißt du, was das zu bedeuten hat? Könnte es sein, dass Tsoltans Dämonengeist vom Untergang Serendairs verschont geblieben und mit einem der Flüchtlinge hierher gekommen ist? Wäre es möglich, dass sie davon erfahren haben?«
Achmed schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Allerdings müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass hier andere Regeln herrschen und wir nicht mehr voraussetzen können, was uns in der alten Welt noch selbstverständlich gewesen ist. Normalerweise sind F’dor, wenn sie die Gestalt eines Menschen angenommen haben, nicht zu erkennen; allerdings kann man manchmal einen Hauch ihres üblen Geruchs wahrnehmen. Das kommt aber nur in den seltensten Fällen vor. Darum sind sie so verflucht gefährlich.«
»Wer oder was könnte dieser Geist denn deiner Meinung nach sein?«
Achmed stand auf und klopfte den Staub aus den Kleidern. »Keine Ahnung. Aber was es auch ist, es setzt dunkles Feuer wie eine Waffe ein. Daher rühren offenbar die Brandwunden. Die Bolg halten den Geist für einen Ausfluss von Saltars Magie, mit dem er sich zu wappnen und unverletzbar zu machen versucht, um immer die Oberhand behalten zu können.«
»Können wir dagegen vorgehen? Kämpfen wir gegen einen besessenen Mann?«
»Ich weiß nicht.« Er reichte Rhapsody die Hand und half ihr auf. »Wir dürfen kein Risiko eingehen. Darum werde ich Feuerauge persönlich aufsuchen müssen. Es gibt einen uralten dhrakischen Zauber, die Zauberacht; sie ist dazu angetan, Dämonengeister in Schach zu halten und sie daran zu hindern, ihren menschlichen Wirt zu verlassen, was zur Folge hat, dass beide sterben, Mensch und Dämon. So könnten wir also auch den F’dor unschädlich machen, wenn er sich denn tatsächlich im Körper von Feuerauge aufhält. Das einzig Komplizierte ist, ihn erst dann zu töten, wenn der Zauber wirkt. Sollte Feuerauge aber am Ende doch nicht der Wirt des F’dor sein, wird alle Anstrengung umsonst gewesen sein.«