»Wirst du ihn denn überhaupt zu fassen kriegen?«
Achmed lehnte sich an die Stollenwand und schloss die Augen. Er konzentrierte seinen Spürsinn auf die tiefe Schlucht und das weite Heideland dahinter. Sein zweites Gesicht flog an den Felswänden von Kraldurge entlang, über die Felder, die für die Frühjahrssaat gepflügt worden waren.
Er kannte den Weg. Er hatte ihn während seines gemeinsam mit Grunthor unternommenen Eroberungszuges häufig genug eingeschlagen. All diese Länder waren nun in seinem Besitz, unter seiner Herrschaft und Kontrolle.
Sein Blick kreuzte die in einer Flussniederung gelegenen alten Weingärten, mit großem Fleiß von jenen Bolg gepflegt, die Rhapsody zu Weinbauern ausgebildet hatte. Er flog über die Wälder und Lichtungen der Hügellandschaft, die früher einmal das Reich der Nain und Gwadd gewesen waren, jener cymrischen Volksgruppen, die es vorgezogen hatten, unter der Erdoberfläche zu leben, und durchstreifte die tiefen Wälder, worin sich früher die Gwylliam-treuen Lirin niedergelassen hatten. Bald erreichte sein zweites Gesicht das Verborgene Reich hinter den Überresten ehemaliger Cymrer-Dörfer und Vorposten, die nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Das Land war fruchtbar und ungestört; seine Bevölkerung hauste in labyrinthischen Höhlensystemen, die sich tief unten im Fels der weiten Berge erstreckten.
Und weiter ging es im Flug über hohe Gebirgspässe hinweg und durch verschlungene Stollen. Schließlich war eine riesige Grotte erreicht, wo sein Blick jählings vor einer Bolggestalt innehielt, die schlafend auf einem breiten Felsbett lag. Der Schamane schlug die Lider auf und starrte ihm aus blutunterlaufenen Augen entgegen. Dann löste sich das Bild auf; die Vision riss ab.
Achmed atmete tief durch und schmunzelte unwillkürlich, als er Rhapsody ansah, die ihre grünen Augen auf ihn gerichtet hatte und vor Ungeduld zu platzen schien.
»Ich weiß jetzt, wo er sich aufhält«, sagte er. »Und das weiß er nun auch von mir.«
58
»Hat sie dir vielleicht Schwierigkeiten gemacht, Euer Liebden?«
Rhapsody zerrte an den Armschienen des Harnischs, den Achmed ihr gegeben hatte.
»Kein bisschen«, erwiderte sie, vergeblich darum bemüht, die Schnallen zu schließen. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie sich die am schlimmsten zugerichteten Opfer von Feuerauges Geist aus der Nähe ansieht. Danach war sie mehr als glücklich darüber, zurückbleiben und auf der Krankenstation aushelfen zu dürfen. Ja, sie hat sich sogar freiwillig bereit erklärt, auf meine Enkelkinder aufzupassen.«
Grunthor grinste, doch sein Blick blieb freudlos.
»Gut. Dann ist wenigstens sie in Sicherheit. Und du bist wirklich nich umzustimmen, Gräfin?«
Sie tätschelte seine Hand, dankbar dafür, dass er ihr die Armschienen festschnallte. »Nein.«
»Na, dann freu ich mich über deine Begleitung. Hoffentlich erinnerst du dich an das, was du von mir gelernt hast.«
»Aber sicher doch. Und natürlich auch an Achmeds weisen Rat: Augen auf; Schwierigkeiten werden dir nicht erspart bleiben, sei also darauf gefasst. Es ist besser, du siehst sie kommen.«
Der Firbolg-König schmunzelte hinter seinem Schleier. »Du bist also bereit?«
Rhapsody trat vor die Tunnelöffnung und stellte sich neben ihn. In der Schlucht waren zehntausende von Bolg zusammengekommen. Sie brannten darauf, ihre toten Brüder zu rächen. Die Emotionen schlugen über, und der Lärm, den die schwer bewaffneten Soldaten machten, war ohrenbetäubend. Immer mehr Kämpfer, Männer wie Frauen, strömten herbei; der Aufmarsch schien kein Ende nehmen zu wollen.
»Seid ihr sicher, diese Menge unter Kontrolle halten zu können?«, fragte sie nervös.
»Nee«, antwortete Grunthor, fast heiter. »Aber ich weiß, an wem sie sich abreagiert, wenn wir die Kontrolle verliern.«
Die Pferde trippelten auf der Stelle, ihre Schenkel zitterten vor Anspannung. Rhapsody stellte sich vor, ebenso wild aus den Augen zu blicken wie die Tiere.
Von hoher Warte aus auf die vielen tausend Bolg in der Tiefe herabzusehen hatte ihr schon Angst genug gemacht. Jetzt, da sie sich auf der Sohle der Schlucht mitten unter ihnen befand, kam sie sich vor wie im Zentrum eines Wirbelsturms.
Ringsum herrschte verstörendes Gewimmel. Es stank nach Schweiß und Angriffsfieber. Die Kampfeslust der Bolg war förmlich greifbar und spiegelte sich in unzähligen Augenpaaren wider.
»Siehst du irgendwo ein Hügel-Auge?«, fragte Achmed seinen Freund, der auf Steinschlag hockte, seinem riesigen Schlachtross, das er von Stephen Navarne geschenkt bekommen hatte.
»Nee. So verrückt werden sie wohl auch kaum sein, uns jetzt anzugreifen.« Zufrieden sah sich Grunthor in der Schlucht um, die sein mächtiges Heer kaum fassen mochte.
Rhapsody trat einen Schritt zurück, um den Quartiermeister passieren zu lassen, der das Zaumzeug ihrer Stute prüfte.
»Gehören die Faust-und-Feuer-Vertreter einem Augen-Klan an oder den Beuschel?«, fragte sie.
»Den Beuschel«, antworteten Achmed und Grunthor wie aus einem Munde.
»Warum wird dann deren Anführer Feuerauge genannt? Ich dachte, die Häuptlinge tragen immer die Klanbezeichnung im Namen.«
Achmed stieg aus dem Sattel und kam auf sie zu, um zur Antwort auf ihre Frage nicht gegen den allgemeinen Lärm anbrüllen zu müssen.
»Im Grunde ist jeder Klan im Verborgenen Reich ein Beuschel-Klan. Den besonderen Namen hat der Schamane seiner blutunterlaufenen Augen wegen. In solchen Augen zeigt sich manchmal auch ein F’dor. Das weißt du aus eigener Erfahrung, nicht wahr?« Rhapsody nickte. »Gelegentlich benutzt so einer auch das Symbol, wie wir es in der Basilika von Bethania gesehen haben. Es war auch Tsoltans Erkennungszeichen.«
Rhapsody musste an ihren jüngsten Albtraum zurückdenken. »Ja, wenn ich mich nicht irre, habe ich es in einer Vision gesehen.«
»Nun, als ich darauf geachtet habe, ist mir nichts dergleichen aufgefallen; es war auch nirgends in seinen Sachen eingestickt. Keine Ahnung, ob er das Zeichen auf seinem Ornat trägt, falls er denn überhaupt so etwas hat.«
Achmed hielt das Pferd, auf dem Rhapsody saß, beim Zügel gepackt, als drei Armbrustschützen, die in Streit geraten waren, prügelnd näher rückten. Grunthor herrschte sie an und schickte sie in die Reihen zurück, die sich in chaotischer Auflösung befanden.
»Denk daran, was ich dir über die Zauberacht gesagt habe. Erschlag ihn nicht, bevor du ganz sicher sein kannst, dass der Zauber wirkt.«
Rhapsody kam mit ihrer Stimme nicht gegen den Lärm an und nickte bloß. Achmed gab ihr einen Klaps auf den Schenkel und stieg zurück in den Sattel seines Pferdes.
Der lange Ritt ins Verborgene Reich war überaus anstrengend. Rhapsody hatte Mühe, im Sattel zu bleiben, und verkrallte sich in der Pferdemähne, als gälte es, ihr Leben festzuhalten.
Sie ritten einem endlos langen Tross voran, dem sich immer mehr Firbolg anschlössen, die von den Hängen und Tälern des Gebirges herbeikamen, Mitglieder verschiedener Klans, einzelne Jäger oder Soldaten in Gruppen, Väter mit einem oder mehreren Söhnen – sie alle stießen zu dem großen Heer, bis es schließlich den Eindruck erweckte, als wären die Berge selbst in Achmeds Gefolge. In Gedanken hörte Rhapsody wieder seine Stimme, mit der er, strotzend vor erwartungsvoller Energie, seine neuen Untertanen von dem Felsvorsprung hoch über der Schlucht aus zum ersten Mal angesprochen hatte.
Was immer ihr einmal gewesen sein mochtet, jetzt seid ihr ohne Kraft. Ziellos irrt ihr umher, und jeder Schritt tut euch weh. Nicht so, wenn ihr euch mir anschließt. Dann wird es sein, als setzte sich der Berg in Bewegung.