»Komm«, sagte er und fasste sie wieder bei der Hand.
Sie rannten hinter Grunthor her, immer tiefer in den Berg hinein, der einst cymrischen Höhlenbewohnern als unterirdische Stadt gedient hatte. Die Füße liefen mit ihren Herzen im Gleichschritt. Die von der Anstrengung und vom Feuerrauch strapazierten Lungen rangen nach Luft. Plötzlich blieb Achmed stehen und renkte ihr fast den Arm aus, als er sie, die noch in vollem Lauf war, jäh zurückhielt.
Vor ihnen stand ein Bolg, der vergleichsweise klein war, nicht größer als Achmed, und ein cymrisches Schwert in der Hand hielt. In Lumpen gekleidet und mit wild zerzaustem Haar, hatte er sich vor ihnen aufgebaut und starrte ihnen aus rot geränderten Augen entgegen. Sie waren voller Angst, wie Rhapsody zu erkennen glaubte.
Achmed stand unmittelbar vor ihm. Er schloss die Augen und öffnete den Mund einen Spaltbreit. Rhapsody legte die Hand auf das Heft ihres Schwerts, während Grunthor das Stangenbeil gegen den Lopper eintauschte. Achmed leitete die Zauberacht ein.
Aus tiefster Kehle brachte er vier verschiedene Töne hervor; ein fünfter trat hinzu, der in Stirnhöhle und Nase gebildet wurde. Es war, als hätten fünf Sänger gleichzeitig zu singen angefangen. Dazu produzierte er nun mit der Zunge rhythmische Klicklaute.
Feuerauge flackerte verwundert mit den Lidern.
Achmed hob die rechte Hand wie zu einem Haltezeichen. Die linke Hand fuhr langsam seitlich aus und nach oben, und mit zuckenden Fingern versuchte er nach einer uralten Methode der Dhrakier, die Schwingungen des F’dor aufzuspüren. Plötzlich sperrte er die Augen weit auf.
Da war nichts zu spüren, auch nicht der kleinste Hinweis auf den F’dor.
Saltars Augen klarten auf; das Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Knurrend sprang er einen Schritt nach vorn, holte mit dem Schwert aus und zielte damit auf Achmeds ungeschützten Nacken. Als die Klinge niedersauste, ließ Grunthor ein so schauerliches Heulen ertönen, dass Rhapsody die Haare zu Berge standen. Er stieß seinen König und teuersten Freund wuchtig zur Seite und fing Saltars Hieb mit der geharnischten Brust ab. Rhapsody schnappte nach Luft und zog ihr Schwert.
Saltar schlug ein zweites Mal zu. Dann sprang er blitzschnell zur Seite und wich so einer Riposte des Riesen aus. Dem Sergeanten fiel die Kinnlade herunter. Feuerauge hatte den Gegenstoß offenbar schon vorausgeahnt, noch ehe Grunthor dazu angesetzt hatte.
»Halt still, du mickriges Miststück!«, murmelte er und holte wieder aus.
Geschickt wich Saltar auch diesem Schlag des Riesenbolg aus. Schweiß brach ihm aus und mischte sich mit den blutigen Tränen, die ihm vor Anstrengung aus den Augen quollen. In Erwartung eines beidhändig geführten Hiebs sprang er zurück.
Grunthor schnaubte vor Wut. »Weiß der Scheißkerl doch wahrhaftig, was ich vorhab, bevor ich’s selbst weiß«, brummte er. Um Saltar zur Parade zu zwingen, hob er sein Schwert und ließ es mit aller Kraft auf Saltars Klinge niederfahren, die, in der Mitte getroffen, wie ein Streichholz zerbrach. Die abgetrennte Hälfte schnellte wie ein Propeller durch die Luft und trennte Saltars Kopf vom Nacken. Der hatte nur noch Zeit, die Augen aufzureißen, ehe der Kopf auf den Boden der Höhle schlug. Erschrocken sprang Rhapsody zurück. Saltars enthaupteter Leib kippte ihr mit einem dumpfen Schlag direkt vor die Füße. Der Kopf rollte noch ein paar Schritte weiter. Die gebrochenen Augen – nunmehr ohne roten Rand – starrten unter die Höhlendecke und schienen noch einmal aufzuleben im Licht der Tagessternfanfare, das sich flackernd im Glaskörper spiegelte.
Achmed schaute näher hin. »Seltsam, das Rot ist aus seinen Augen verschwunden.«
Rhapsody zitterte. »Der Dämonengeist, wo ist er? Hat er sich vom Zauber zwingen lassen?«
»Da war gar nichts, was sich zwingen ließe«, antwortete Achmed und untersuchte die Augen des Toten.
Rhapsody blickte auf den Boden. Von Saltars durchtrenntem Hals war ihr eine schwere Goldkette mitsamt Talisman vor die Füße gefallen. Sie bückte sich, um sie aufzuheben.
»Nicht anfassen!«, schrie Achmed in schriller Stimmlage.
Vorsichtig führte Grunthor die Spitze seines Schwertes unter das Medaillon und drehte es um: ein goldenes, von metallenen Feuerzungen umkränztes Schmuckstück, vor langer, langer Zeit als ein Abbild der Erde in Flammen geschmiedet. Darin prankte eine Spirale aus winzigen roten Steinen, die in der Mitte auf ein einzelnes Auge hinauslief. Es funkelte in dem von der Klinge reflektierten Flammenlicht.
Grunthor fuhr vor Schreck zusammen. »Da ... das ist er!«
Achmed wich noch einen Schritt zurück. Rhapsody warf einen Blick in die Runde, konnte aber in der Dunkelheit der Höhle nichts erkennen. Weiter hinten im Eingangsbereich waren nach wie vor Kämpfe zwischen den eigenen Soldaten und Faust-Bolg im Gange, die vom Tod ihres Schamanen noch nichts wussten. Und über alle und alles senkte sich ein kalter Nebel.
Plötzlich schrie Grunthor auf. Es war kein Kampfschrei, was er da von sich gab, nicht jenes Gebrüll, mit dem er Menschen und Tiere zu erschrecken pflegte, auch nicht das donnernd dröhnende Lachen, das von ihm zu hören war, wenn er sich am Schrecken, den er verbreitete, ergötzte.
Es war ein Schmerzensschrei.
Er wirbelte herum und schlug beide Hände vors Gesicht, getroffen von einem Hieb, der wie aus dem Nichts geführt worden war. Rhapsody eilte ihm zu Hilfe, wurde aber zurückgestoßen, von einem wuchtigen Windstoß, wie es schien.
»Grunthor!«
Geblendet taumelte der Sergeant zurück. Blut rann aus einer qualmenden Wunde, die ihm der unsichtbare Streich über die Augen geschlagen hatte. Auch auf Brust und Schulter klafften tiefe Risse. Sein Umhang hatte Feuer gefangen und ging in Flammen auf.
Achmed packte den Freund, holte ihn von den Beinen und wälzte sich mit ihm über den Boden, um die Flammen zu ersticken, genau so, wie es Grunthor mit ihm im Kern der Erde getan hatte. Von einem unsichtbaren Schlag am Kinn getroffen, flog der Kopf des Dhrakiers in den Nacken zurück, und das Feuer drohte Grunthor zu verzehren.
Rhapsody mühte sich auf die Knie und hob das Schwert mit ausgestreckten Armen. Keuchend schnappte sie nach Luft, schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, das Feuer verschwinden zu lassen.
»Slypka«, flüsterte sie.
Die Flammen verpufften. Grunthor lag auf dem Bauch und zuckte abermals zusammen, als sich plötzlich auf dem Rücken von der Hüfte bis zum Nacken ein Spalt auftat. Entsetzt starrte Rhapsody auf die offene Wunde.
»Achmed, sieh nur!«
Im Licht, das von ihrem Schwert ausging, konnte man eine Schattengestalt erkennen, die sich über den Riesen beugte. Fast unsichtbar schwebte sie über ihm, mit einem Kapuzengewand wie aus Nebelschleiern, die ihr von knorrigen Armen mit glühenden Klauen herabhingen. Nur als ein fahler Schimmer war die Silhouette auszumachen, die sich, ohne eigene Substanz, an der Schwelle zwischen Leben und Tod aufzuhalten schien. Im Ausschnitt der Kapuze war nichts als dunkle Leere. Als aber das Schwertlicht darauf fiel, blinkte es einmal kurz darin auf.
Ein letztes Zittern ging durch Grunthors Körper, dann lag er still. Der Flammenschein der Tagessternfanfare fing einen Schatten auf, der sich von dem Riesen weg auf sie, Achmed und Rhapsody, zubewegte.
»Shing«, flüsterte Achmed mit erstickender Stimme. »Himmel!«
»Shing? Was ist das?«, raunte Rhapsody kaum hörbar.
»Ein Auge des F’dor. Es kommt näher. Geh langsam zurück, und dann mach, dass du wegkommst. Ich werde es so lange wie möglich aufzuhalten versuchen.«
Noch in der Hocke kauernd, wich Rhapsody zurück. »F’dor? Du sagtest doch, da wäre nichts.«
»Ich hab ja auch keine Schwingungen von ihm aufnehmen können«, murmelte Achmed, der sich hektisch nach allen Seiten hin umsah. »Aber er ist hier. Tsoltans Sklave. Saltar war sein Wirt, ganz bestimmt; es muss so gewesen sein.«
Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.