Rhapsody richtete den Oberkörper auf. In ihrem Inneren hörte sie die Worte so deutlich, als würde die Mutter neben ihr stehen. Und laut wiederholte sie:
»Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.«
Achmeds Kopf schnappte zurück. Aus einer quer über die Schulter geschlagenen Wunde schlugen Flammen. Grunthor gab einen ächzenden Laut von sich und hob die riesige Pranke, als der Freund, rückwärts taumelnd, über ihn stolperte.
Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.
Unwillkürlich richtete sich ihr Blick auf das Amulett. Mit zitternder Hand langte sie danach und hob es vom Boden auf.
»Nein«, stöhnte Achmed, der sich vor Schmerzen wand. »Berühr es nicht!«
Grunthors Körper wurde mit Gewalt herumgewälzt.
»Halt!«, befahl Rhapsody und hielt das Amulett in die Höhe.
Im Geiste hörte sie ein Wort, das so klang, als wäre es in der Ecke gegenüber ausgesprochen worden, mit gedämpfter Stimme, im Flüsterton.
Tsoltan?
Rhapsody schüttelte den Kopf und versuchte sich von dem Eindruck zu befreien, als würde sich da etwas bei ihr einschleichen und ihre Gedanken verdrehen.
Achmed hob den Arm, so hoch er konnte.
»Rhapsody, lauf!«, röchelte er. »Zuerst wird er Grunthor töten, dann bin ich dran. Davon lässt er sich nicht abringen. Mach, dass du davonkommst.« Blankes Entsetzen trat in sein Gesicht. »Himmel, Rhapsody, deine Augen!«
Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.
»Es ist das Amulett«, sagte sie leise. Sie hob es wieder in die Höhe und blickte zu Grunthor hin. »Der Shing ist nicht an den Schamanen gebunden, sondern an das Amulett.«
Sie wandte sich wieder dem Schatten zu, der unstet durch die Dunkelheit huschte. »Lass von ihm ab«, verlangte sie. Über Grunthor glimmte ein schwacher Funke auf. »Was willst du?«
Ich suche den Bruder.
»Hast du gehört?« Rhapsody wandte sich an Achmed, der am Boden lag und sich auf dem Ellbogen abstützte, um sich aufzurichten. Er schüttelte den Kopf. »Er sucht den Bruder.«
Mit Müh und Not stand Achmed auf. Er griff nach seinem Schwert und flüsterte auf Bolgisch: »Sag’s ihm.«
»Nein. Er kann dich nicht sehen. Du bist jetzt Achmed die Schlange.«
»Sag’s ihm«, wiederholte er. »Wenn nicht, geht er wieder auf Grunthor los. Und dann wird er dich töten. Sag’s ihm.«
»Nein.«
Achmed raffte sich auf und kam wankend näher.
»Ich bin der Bruder!«, brüllte er. »Ich bin es, den du suchst! Nimm mich!«
»Achmed, nein!«
Achmed straffte die Schultern und presste die Arme an die Seiten. Entsetzt sah Rhapsody zu, wie er in die glühenden Klauen des glimmenden Schattens fiel, zu Boden gerissen und vor ihren Augen malträtiert wurde, bis er sich schließlich nicht mehr rührte.
Der Shing schwebte vor ihr in der Luft. Tief im Inneren hörte sie wieder seine Stimme.
Ich habe den Bruder gefunden und ihn, wie es mein Auftrag war, ausgeliefert. Entlasst mich jetzt aus Eurem Dienst.
Rhapsody hielt die Kette mit dem Amulett fest in der schweißnassen Hand umschlossen.
»Wo sind die anderen Augen? Wo ist der Rest eurer Tausendschaft?«
Verschwunden, verglüht in der Hitze des Schlafenden Kindes und in alle Winde verstreut. Ich allein bin zurückgeblieben, habe den weiten Ozean überquert, um ihn zu suchen. Das ist mir geglückt.
Entlasst mich jetzt.
Achmed rührte sich, blieb aber liegen. »Frag ihn nach seinem Herrn.«
»Und wer hat dich gerufen? Wo hält er sich auf?«
Er ist tot, als Mensch und Geist, sein Name fast vergessen. Ich bin der Letzte aus seinem Feuer. Er ist tot. Entlasst mich jetzt. Die Stimme wurde schwächer.
Rhapsody warf einen Blick auf Achmed. »Er will, dass ich ihn freigebe.« Achmed nickte. Sie schaute zurück, auf die Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte.
»Zeig dich ganz, damit ich dich entlassen kann.«
Es zeigte sich ein schwacher Schimmer. Rhapsody erkannte die Umrisse des Umhangs und der Kapuze. Die dürren Klauenhände glühten nur noch matt, statt zu brennen. Das Knochengerüst der Hülle schien in Auflösung begriffen zu sein. Im Ausschnitt der Kapuze war kein Licht mehr zu sehen.
»Gibt es noch andere Dämonengeister? Weitere F’dor?«
Der Shing war kaum mehr auszumachen, seine Stimme verstummt.
»Slypka«, sagte sie. Erlisch. Und die schimmernde Erscheinung löste sich auf.
Sie beugte sich über Achmed, um ihm zu helfen, doch er winkte ab, und so lief sie auf Grunthor zu. Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie die schrecklichen Wunden sah, die sein Gesicht und seinen Körper entstellten. Er atmete nur noch schwach und starrte mit glasigen Augen zur Decke. Seine Wangen hatten bereits die Farbe des Todes angenommen.
In der Stille der Höhle intonierte Rhapsody den bolgischen Namen mit all seinen schwer zu artikulierenden Schnalz- und Pfeiflauten. Kind der Sandwüste und des offenen Himmels, Sohn der Höhlen und Länder der Dunkelheit, sang sie. Grunthor bewegte sich nicht.
Bengard. Firbolg. Sergeant Major. Mein Spieß, mein Beschützer. Herr der tödlichen Waffen. Sie schluchzte und fing zu weinen an. Dero untertänigst zu gehorchender Autorität. Grunthor, stark und verlässlich wie die Erde selbst. Mein Freund, mein lieber, lieber Freund.
Draußen vor der Höhle ging die Sonne unter.
59
»Euer Liebden?«
Pochende Schmerzen hinter den Schläfen, eine vertraute Stimme in den Ohren. In Dunkelheit schwimmende weiße Kreise.
Rhapsody rang um das Bewusstsein, sackte aber immer wieder in den Traum zurück, dahin, wo sie getrost glauben konnte, dass Grunthor nicht tot war. Er lächelte ihr zu, rüttelte sie nach einem Albtraum auf der Wurzel wach und tröstete sie, wie schon so viele Male zuvor.
»Lass dir Zeit, Herzchen.« In ihrer Erinnerung sah sie das graugrüne Gesicht schmunzeln. Wie oft hatte er ihr das nicht schon geraten, aus Sorge, dass sie unvorsichtig werden und stolpern könnte. Er war immer so geduldig gewesen.
Die Stimmen schienen weit entfernt über ihr zu schweben.
»Wie lang liegt sie schon flach?«
»Seit dem frühen Morgen. Sie hat die ganze Nacht hindurch bis Sonnenaufgang gesungen und ist dann umgekippt.« Achmeds ohnehin schon trockene Stimme war noch rauer geworden.
Ihre Kehle füllte sich mit Schmerz. Grunthor, hauchte sie, und es klang, als spräche sie mit einer anderen Stimme, mit der Stimme einer gebrechlichen Firbolg-Greisin.
»Hier bin ich, so gut wie neu.«
Rhapsody versuchte die Augen zu öffnen, was ihr aber bloß mit dem einen gelang. Über ihr schwebte das graugrüne Gesicht; es grinste. Sie wollte etwas sagen und bewegte die Lippen, doch es kam kein Laut darüber.
»Schön still liegen bleiben, Gräfin. Du hast mich wieder zusammengeschustert und verflixt gute Arbeit geleistet. Ich seh jetzt besser aus als du.«
Sie drehte den Kopf und sah Achmed neben sich sitzen, bandagiert und mit Pflastern versehen, aber anscheinend wohlauf. Soweit sie es erkennen konnte, hatte Grunthor nicht einen Kratzer. Aus irgendeiner Ecke hörte sie einen erleichterten Ausruf von Jo.
»Ist sie aufgewacht? Geht es ihr gut?«
Wenig später tauchte das verheulte Gesicht des jungen Mädchens auf. Es schien voller Freude und wütend zugleich zu sein.
»Hör zu, du Kümmerling. Wenn du das nächste Mal auf Vergnügungsfahrt gehst und mich mit deinen Enkelbälgern allein lässt, garantiere ich dir eine ordentliche Tracht Prügel. Die Rotzlöffel haben mich gefesselt und beraubt. Wärst du nicht rechtzeitig wieder zu dir gekommen, hätte ich als erster Mensch einen Bolg gefressen.«
Rhapsody atmete tief durch und spürte, wie der Schmerz in der Brust ein wenig nachließ.