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»Und mit dir ... ist wirklich alles ... wieder in Ordnung, Grün...«

»Ruhig«, sagte der Riese. »Nich sprechen. Wie gesagt, ich bin hübscher denn je. Und dir sehr dankbar. Dass du mich mit ’nem Lied zurückgeholt hast... Du scheinst mich wirklich gut zu kennen.« Er schmunzelte.

»Tja, das sollte man doch wohl meinen. Immerhin haben wir schon miteinander geschlafen«, sagte sie mit schwerer Zunge und schlief, noch während die anderen lachten, wieder ein.

Ein scharfer Wind heulte über die Verdorrte Heide und fuhr in ihre Umhänge und Kapuzen, die sich wie Segel blähten. Achmed und Grunthor hielten wachend Ausschau, während Rhapsody das Amulett untersuchte. Sie hatte in einer windgeschützten Felsnische Zuflucht gesucht. Das Amulett lag auf einer Schieferplatte, das Auge zuoberst, dem dunklen Himmel zugewandt.

Sie summte eine Melodie in so hohen, schrillen Tönen, dass sich Achmed vor Schmerzen wand.

»Grunthor, so ließe sich doch auch foltern«, sagte er gequält und mit zusammengebissenen Zähnen.

»Das hält keiner aus.«

Der Riesen-Bolg lachte. »Ich glaub, darauf legt sie’s auch an. Sie will das Amulett dazu bringen, dass es mit seinem Geheimnis rausrückt.«

Das Mondlicht färbte ihr goldenes Haar silbern. Sie hatte fast zwei Stunden in ihrer Felsnische gehockt und vor sich hin gesungen, als sie endlich aufstand, den Staub aus den Kleidern klopfte und zu den Freunden zurückkehrte.

»So weit, so gut. Ich habe einiges in Erfahrung gebracht und darüber, dass ich die Eigenresonanzen des Amuletts aufgerufen habe, etliche Bilder einsehen können. Es hat scheußliche Szenen gesehen, glaubt mir, und ich habe beschlossen, nicht allzu weit in die Vergangenheit zurückzugehen. Denn zum einen habe ich gar nicht die Zeit, die schrecklichen Erinnerungen anderer zu teilen, und zum anderen lässt sich nicht ausschließen, dass sie einen schlimmen Einfluss auf mich ausüben könnten. Das Amulett selbst ist leblos. Es ist einfach nur ein Gegenstand, der einer sehr mächtigen Person gehört hat, die mit der Geisterwelt in Verbindung stand.

Dieser Shing hat offenbar die Wahrheit gesagt. Tsoltan hat tatsächlich die Tausend Augen zusammengerufen und seine dämonische Lebenskraft auf sie verteilt. Sie haben jeweils einen Teil seiner Kraft – seiner Seele, wenn man so will – mit sich genommen und von dieser Kraft gezehrt, um ihre Aufgabe erfüllen zu können: den Bruder zu finden und zurückzubringen.

So haben die Shing auf der ganzen Welt nach dir gesucht. Der, dem wir begegnet sind, war der einzige Überlebende; im Unterschied zu den anderen hat er die Insel verlassen und das Meer überquert. Die Suche der anderen blieb vergeblich, und weil sie ihre Mission nicht einfach abbrechen konnten, sind sie nie zu Tsoltan zurückgekehrt. Sie suchten in ihrer Welt immerfort nach jemandem, den es dort gar nicht mehr gab. Selbst wenn sie dir auf die Spur gekommen wären, hätten sie dich nicht erkannt – ebenso wenig wie der, dem wir begegnet sind –, denn du trägst ja inzwischen einen anderen Namen. Und weil Tsoltan dich nicht hatte einfangen lassen können, war er auch nicht in der Lage, die Shing zurückzurufen. Er hat das Spiel verloren und seine dämonischen Kräfte eingebüßt. Als MacQuieth ihn schließlich traf, war von Tsoltan nur noch die menschliche Seite übrig geblieben. Die Macht des F’dor hatte sich tausendfach aufgeteilt und war mit den Shing verloren gegangen.«

Der kühle Wind machte sie frieren. Grunthor öffnete seinen schweren Mantel und hüllte sie darin ein. Kichernd fuhr Rhapsody fort. »Sich mit dem Anhänger einer Kette zu unterhalten ist ziemlich seltsam. Seine Ansichten vom Leben sind, gelinde gesagt, ein bisschen verdreht. Wie auch immer, es scheint, dass MacQuieth dem sterbenden Priester das Amulett vom Hals gerissen, es mit nach Elysian – das echte, nämlich in den Palast – genommen und dem König als Trophäe geschenkt hat. Ich weiß nicht, welchem König – von solchen Dingen versteht das Amulett nichts.

Über viele Generationen war es im königlichen Museum ausgestellt. Mit der Zeit aber gerieten seine Herkunft und Bedeutung in Vergessenheit, sodass es schließlich bloß ein Ausstellungsstück unter vielen war.

Als schließlich die Insel evakuiert werden musste, hat man das Amulett mit anderen wertvollen Gegenständen in eine Kiste gepackt und als Teil des kulturellen Erbes mitgenommen. Die Kiste kam unversehrt in Canrif an, wurde aber nie ausgepackt, sein Inhalt nie zur Schau gestellt. Ich vermute, das neue Leben war für Gwylliam und seine Untertanen so aufregend und abwechslungsreich, dass man für Erinnerungsstücke von früher keine Muße hatte, schon gar nicht für eines, das so hässlich ist, dass man sich nicht einmal damit schmücken kann.

Also blieb es in der Kiste liegen und setzte Staub an. Dann brach der Krieg aus, und als Gwylliam starb, fielen die Bolg über den Berg her. Sie fanden das Amulett in den Ruinen einer Siedlung, wahrscheinlich von Lirin oder Gwadd bewohnt, tief im Verborgenen Reich. Aber sie hatten Angst davor und rührten es nicht an.

Dann kam die Zeit des Schamanen Saltar – oder wie immer er geheißen haben mochte. Er hatte den Mut, sich das Amulett um den Hals zu hängen, und erkannte, dass es ihm Macht verlieh. Ich glaube, dass diese Macht ursprünglich nicht viel mehr als das Ergebnis von Furcht war, die das ›Feuerauge‹ unter den Bolg verbreitete, ja, selbst unter denen vom Stamm der Faust-und-Feuer-Bolg.

Und es dauerte nicht lange, da zeigte sich ihm der Shing, der den Bruder gesucht hatte, jetzt aber, über das Amulett sozusagen neu beauftragt, nach Tsoltan oder seinem Nachfolger zu fahnden begann. Der Shing hat Saltar erklärt, wie man mit Hilfe des Auges über große Entfernungen blicken und die Reaktionen anderer vorhersehen kann. Darum war er auch dir, Grunthor, im Kampf immer einen Schritt voraus.«

»Dieser kleine Drecksack«, murmelte der Sergeant. »Mit dem war ich sonst im Handumdrehen fertig geworden.«

»Zweifellos. Aber dank des Amuletts konnte er hellsehen. Dass er rot geränderte Augen hatte, war das äußere Zeichen für diese spezielle Gabe. Wovon ich mich ja auch habe überzeugen können, als ich das Ding in der Hand hielt. Wie dem auch sei, ich glaube, das ist die ganze Geschichte oder zumindest das, was ich davon verstanden habe. Da wäre allerdings noch ein interessantes Detail, und das hat mit deinem Namen zu tun, Achmed. Ich meine, deinem alten Namen.«

»Und?«

Rhapsody kramte in ihrem Gepäck und holte ein Stück Ölpapier daraus hervor, das mit Holzkohle bestrichen worden war.

»Erinnerst du dich?«

»Natürlich.« Seine seltsamen Augen schienen im Dunkeln zu leuchten.

»Du sagtest, dass das Schild, das du mit diesem Stück Ölpapier abgepaust hast, an einem großen Obsidianblock gehangen hat.«

»Ja, so wär’s«, bestätigte Grunthor.

»Und die Inschrift ließ erkennen, dass dieser Block ursprünglich als Altar in einem bestimmten Tempel gedient hat.«

»Ja.«

»Dieser Tempel wurde von Tsoltan im Auftrag seiner Gottheit – der Allesverschlingerin und Göttin der Leere – zerstört, der Altar geraubt. Das war, lange bevor er dir deinen Namen geraubt hat.«

Rhapsody suchte in Achmeds Miene nach einer Gefühlsregung, doch es zeigte sich keine. »Ich vermute, dass dein Name einmal in diesem Stein eingeschlossen gewesen ist.«

»Möglich.«

»Das könnte bedeuten, dass die Gewinner des Serenschen Krieges den Stein zurückverlangt und ihn ihrem Gott des Lebens neu geweiht haben, was, wenn ich richtig informiert bin, der ältere Name des Allgottes war. Aber daran erinnert sich das Amulett natürlich nicht. Allerdings hat es mir ein deutliches Bild von Tsoltans Schrecken vermittelt, als er entdeckte, dass du ihm aus dem Ruder gelaufen bist. Schade, dass ich es dir nicht zeigen kann. Du hättest mit Sicherheit deinen Spaß daran. Vielleicht werde ich eines Tages einmal eine komische Ballade aus diesem Stoff komponieren. So, wären wir dann jetzt fertig? Kann’s weitergehen?«

König und Sergeant sahen einander an und nickten. Zu dritt begaben sie sich an die Stelle zurück, wo das Amulett im Gras lag und mit seinem Auge zu den Sternen emporstarrte.