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Rhapsody versuchte sich vorzustellen, wie es hier wohl ausgesehen haben mochte, als die Firbolg noch fernab in ihren Höhlen gelebt und die Aussiedler ihrer Heimat sich um dieses Land gekümmert hatten. Wie verschieden waren doch Serendair und diese felsigen, gebirgigen Steppen voller Heidekraut und dorniger Büsche. Ob sich die Cymrer hier jemals heimisch gefühlt haben?, fragte sie sich – und: Könnte auch ich hier heimisch werden? War es möglich, den Kummer über den Verlust der Heimat zu vergessen und sich mit dem Vorgefundenen zu trösten?

Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihr Herz, und ihr wurde wieder bewusst, aus welchem Grund sie hier heraufgestiegen war. Sie musste Mittel und Wege finden, ihre quälenden Albträume loszuwerden.

In letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, die Tagessternfanfare, aus der Scheide gezogen, in eine Ecke ihrer Kammer im Kessel oder in ihrem Schlafzimmer in Elysian an die Wand zu lehnen, um an der Wärme und dem Glanz, die das Schwert ausstrahlte, Trost zu finden, wenn sie nachts aus dem Schlaf aufschreckte. Allerdings stellte sich darüber bei ihr auch ein Schuldgefühl ein, kam es doch einem geradezu frevlerischen Missbrauch gleich, diese alte Waffe zu nichts weiter als einer Art Notbeleuchtung zu verwenden.

Von Michael und seinesgleichen träumte sie nur noch selten; viel mehr quälten sie die Bilder von zu Hause und von den Lieben, die nun schon über tausend Jahre tot waren. Manchmal hörte sie die Eltern oder ihre Brüder flehentlich rufen, dass sie doch endlich nach Hause zurückkehren möge. Manchmal träumte sie vom Serenschen Krieg, der großen Heimsuchung, die über ihr Land gekommen war, kurz nachdem sie es verlassen hatte, und dann stellte sich ihr die Frage, was den Angehörigen an Schrecken widerfahren sein mochte. Hatten sie das Ende des Krieges noch erlebt, oder waren sie ihm schon vorher zum Opfer gefallen? Was hatte ihre Mutter gemeint, als sie sagte, dass die Familie durchs Feuer umgekommen sei? Schreiend erwachte Rhapsody aus ihren Albträumen vor allem dann, wenn sich ihre Phantasie auf diese Fragen Antworten ausmalte.

Doch am schlimmsten waren jene nostalgischen Träume, die ihr vorgaukelten, tatsächlich zu Hause zu sein, während ihr Exil nur eingebildet war, dass sie im Schoß der Familie aufgehoben sei und ein Leben führe wie eh und je.

In solchen Träumen meinte sie manchmal, sich selbst und andere davon überzeugen zu müssen, dass sie tatsächlich geflohen und das traurige Leben, das sie jetzt führte, Wirklichkeit war, und sie bettelte darum, festgehalten zu werden, damit sie nicht dorthin zurück müsste, fand sich aber schließlich doch, erwachend, in der Dunkelheit des Kessels wieder. Und dann weinte sie heimliche Tränen der Verzweiflung.

Nicht wieder, sagte sie sich. Da will ich diese Nacht nicht wieder durch müssen. Sie blickte über die Heide, sah den warmen Frühlingswind über die frisch aufgegangenen Blumen streichen und steckte im Geiste eine Laufstrecke ab. Dass sie nicht schon ihre Sportsachen angezogen hatte, ehe sie aus der Großen Halle aufgebrochen war, bedauerte sie jetzt. Wie gewöhnlich trug sie ihr weiches graues Kleid, das eng am Körper anlag, aber an den Ärmeln und am Rocksaum weit ausgestellt war, was sich zum Laufen nicht besonders gut eignete.

Rhapsody lief los, ziellos und nur verzweifelt darauf aus, sich selbst zu vergessen. Beide Arme ausgebreitet, spürte sie die Ärmel im Wind flattern wie Vogelschwingen. Sogleich fühlte sie sich befreit und löste die Schleife, die das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hielt. Wie ein Liebhaber griff der Wind in die Locken, die das Licht der untergehenden Sonne auffingen und in den Himmel zurückwarfen.

Sie lief, den Wind im Rücken, bis sie den Südrand der Heide erreicht hatte, kehrte um und lief zurück. Das Haar wehte wie eine Fahne am Mast. Sie folgte der sinkenden Sonne nach Westen, sprang über Grasbüschel und große Feldsteine und drehte sich mit schwingendem Kleid wie im Tanz mit dem Wind.

Dabei wirbelte sie umher und sprang, ließ sich leiten von einer nicht bewusst gefühlten Anmut und hörte im Innern den Wind singen. Der rief eine Saite in ihrer Seele auf, die sich krampfhaft zusammengezogen hatte, um das Herz davor zu bewahren, dass es zerbrach. Von diesem Albdruck befreit, flog die Seele mit ihr im Sturmlauf der Nacht entgegen.

Sie lief unmittelbar am Rand der Heide entlang, nicht länger tanzend, sondern darauf bedacht, möglichst schnell zu sein. Dass gleich neben ihr der Abgrund gähnte, ängstigte sie nicht, im Gegenteil, sie wünschte sich fast, dass sie der Wind vom Plateau fegte. Als die Sonne hinter dem Felsgrat wegtauchte, legte sie eine kurze Pause ein und badete das Gesicht in den letzten Strahlen. Dann rannte sie weiter, so schnell sie nur konnte, und der Wind, der ihre schweißnasse Haut kühlte, frischte auf mit dem Hereinbrechen der Nacht.

Als sie schon zwölfmal das weite Feld umrundet hatte, glaubte sie in der Lage zu sein, eine weitere Runde mit geschlossenen Augen zu drehen, was sie auch versuchte. Doch bald schlug sie die Augen lieber wieder auf und folgte mit ihren Blicken den länger werdenden Schatten, die die Zacken der Zahnfelsen über die Heide warfen.

Endlich machte sich die Erschöpfung bemerkbar, auf die sie es angelegt hatte. Da trat ihr plötzlich eine dunkle Gestalt in den Weg, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Vor Schreck geriet sie ins Stolpern und wäre wohl gestürzt, hätte die Gestalt nicht schnell die Arme ausgestreckt und sie aufgefangen.

Rhapsody riss sich sofort los und zückte den Dolch. Außer Atem und nach Luft ringend, bemühte sie sich, Haltung anzunehmen, und musterte die graue Gestalt aus weit aufgerissenen Augen.

»Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken«, meldete sich eine Stimme, die ihr vage vertraut vorkam.

»Wer, zum ... wer bist du?«, keuchte sie empört.

»Ich bin’s, Ashe. Weißt du denn nicht mehr? Wir haben in Bethe Corbair zusammen zu Mittag gegessen.«

»Himmel!«, platzte es aus ihr heraus. Sie zitterte am ganzen Körper, so erschrocken und erschöpft war sie. »Mach das nicht noch mal mit mir. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte dir den Hals aufgeschlitzt.«

Aus der verhüllten Kapuze war ein leises Lachen zu vernehmen. »Das nächste Mal bin ich vorsichtiger, versprochen«, antwortete Ashe, und dass er lächelte, war seiner Stimme anzuhören.

»Was treibst du hier? Und wie bist du an den Wachposten der Bolg vorbeigekommen? Das wird Grunthor überhaupt nicht gefallen.«

»Ich hoffe, er wird mit den Wachen nicht allzu harsch ins Gericht gehen«, sagte er voller Mitgefühl.

»Sie können nichts dafür. Außerdem bin ich auf Einladung hier.«

Fröstelte sie soeben noch vor Angst und Schrecken, so wurde ihr nun plötzlich ganz heiß. »Wirklich? Wer hat dich denn eingeladen?«

»Ja, du und Jo. Jedenfalls habe ich mich eingeladen gefühlt, als Jo meinte, dass ich jederzeit willkommen sei. Es tut mir Leid, wenn ich irgendetwas missverstanden habe.«

Rhapsody spürte, wie die Hitzewelle wieder abebbte. »Nein, nein«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich bin es, der sich entschuldigen müsste. Natürlich bist du willkommen. Du hast mich auf dem falschen Fuß erwischt. Ich war ganz außer Atem und nicht ganz bei mir.«

»Vor wem oder was läufst du davon?«

Rhapsody dachte über eine Antwort nach, doch auf die Schnelle fiel ihr keine ein, die sie diesem Fremden hätte anvertrauen wollen. »Nichts Greifbares«, sagte sie und setzte eine heitere Miene auf.

»Ach, ja?«

»Ja«, sagte sie. »Und wovor versteckst du dich?«

Die verhüllte Gestalt lachte und verbeugte sich komplimentierend. »Auch das ist nicht greifbar.«

Kaum dass sie sich von dem ersten Schock erholt hatte, stellte sich wieder Beklommenheit ein. Sie war hierher auf die hoch gelegene und abgeschiedene Heide gestiegen, um ihren Albträumen zu entrinnen, und einer Gestalt gewissermaßen in die Arme gelaufen, die wie einem Albtraum entstiegen zu sein schien.

Sie versuchte, sich an den Traum zu erinnern, an jene Vision, die ihr zweimal einen Körper vor Augen geführt hatte, der, auf einem Tisch aufgebahrt, in der Dunkelheit aufglühte und verschwand.