Ich kann ihn nicht mehr sehen, Mama. Warum nicht?
Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.
Rhapsody blickte in den Ausschnitt der Kapuze, doch da war rein gar nichts zu sehen, was sie ängstigte, zugleich aber auch ein bisschen traurig machte. Auch sie hatte sich schon häufig verstecken und unsichtbar machen müssen. Was war wohl der Grund dafür, dass sich Ashe den Blicken anderer entziehen zu müssen glaubte? War er in den Augen der Hiesigen so anders und unansehnlich? War er womöglich überfallen, grausam zugerichtet und entstellt worden?
Es trat nun ein anderes Bild vor ihr geistiges Auge und machte sie zittern. Es war das Bild eines Mannes, der in Dunkelheit ertrank und dabei unsägliche Qualen litt.
»Rhapsody? Ist alles in Ordnung mit dir?«
Sie spürte, wie sich ihr Gesicht verzog, die Wangen krampften. Dass sie Angst hatte, war nicht zu verkennen.
»Ja«, sagte sie. »Mir geht’s gut. Warum kommst du nicht mit?« Sie lächelte matt und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich bringe dich zum Kessel. Achmed wird sich freuen, dich wieder zu sehen. Er ist unser König, musst du wissen.«
»Kessel?«
»Ja, so heißt der Königsitz, wozu auch die Große Halle gehört.«
»Herrje.« Die Kapuzengestalt wirkte einen Augenblick lang wie erstarrt.
»Ja, nun, wir sind hier immerhin im Land der Firbolg. Komm, ich werde dir zeigen, wie gastfreundlich man bei uns ist.« Sie band ihr Haar wieder im Nacken zusammen, und trat den Rückweg an. Der graue Schatten ging neben ihr her. »Glaub mir, ich würde dir überall hin folgen, weiß aber nicht, ob ich auch Schritt halten könnte, wenn du zu laufen anfingest.«
61
Ashe sah Canrif zum ersten Mal; es war auch für ihn ein Anblick, der verwunderte und düster stimmte. Die Pässe in den Zahnfelsen wurden streng bewacht. Die Posten, die dort ihren Dienst versahen, waren zwar nur leicht bewaffnet und gepanzert, aber gewissenhaft ausgebildet und machten ihre Sache nicht weniger gut als die Soldaten von Sorbold und besser als die von Roland, deren Rüstzeug manche von ihnen trugen. Als Wachen waren nur die Lirin besser.
Als Ashe das letzte Mal in die Bolgländer gekommen war, hatte er als junger Rekrut im Heer von Bethania an einer Frühjahrssäuberung teilgenommen, aber das war noch in seinem anderen Leben gewesen, als er sich noch frei und offen in menschlicher Gesellschaft hatte bewegen können und auch Veranlassung dazu gehabt hatte.
Er hatte an diesem Waffengang teilgenommen und keinerlei Skrupel dabei empfunden, allerdings auch keine sadistische Lust, als es darum gegangen war, die menschenähnlichen Ungeheuer niederzumachen, die dort lebten.
Gewissensbisse stellten sich erst später ein, insbesondere jetzt, da er die Bolg als das erkannte, was sie wirklich waren: zwar primitiv und kriegerisch, aber doch von Menschenart und keine Tiere. Und diese beiden, Rhapsody und der Mann, den sie Achmed nannte, hatten es fertig gebracht, die Bolg zusammenzuführen und in kürzester Zeit zu einer starken Streitmacht aufzurichten. Das in Erfahrung gebracht zu haben war ihm sehr wichtig.
Er hatte auf der dunkelnden Heide gestanden und Rhapsody lange Zeit beobachtet, ohne sich ihr bemerkbar zu machen.
Zuerst war ihm nicht ganz klar gewesen, was sie da trieb, warum sie gegen den Wind lief und die Haare fliegen ließ. Dann aber fiel ihm auf, wie leidenschaftlich und wild ihr Tanz war, und ihm wurde bewusst, dass sie zu fliehen versuchte, aber kein Ziel hatte. Umso größer wurde sein Verlangen nach ihr.
Ashe versuchte, seine Gefühle im Zaum zu halten, als er ihr nun über felsige Steige in die von Fackellicht beleuchteten Höhlengänge folgte, die zur uralten Machtzentrale der Cymrer führten. Canrif – die legendäre Wiege der cymrischen Zivilisation, die ein hoch entwickeltes Rechtswesen ausgebildet und Bahnbrechende wissenschaftliche und technische Leistungen vollbracht hatte, die die Künste zur Blüte geführt, große Basiliken und Straßen gebaut und erstaunliche Entdeckungen gemacht hatte. Und all das war schließlich einem blindwütig geführten Krieg zum Opfer gefallen. Was für eine Schande! Ashe schaute sich um. Beim Durchschreiten dieser Gänge war ihm, als erlebte er die Geschichte noch einmal.
An den Ruinen der Festung hatte sich seit der Flucht der Cymrer offenbar kaum etwas verändert, und es stank in ihnen auch noch vierhundert Jahre später nach Pech und Rauch, nach bitterer Niederlage. Gwylliam war ein großer Ingenieur gewesen, ein Mann, der etliche der größten Bauwerke der bekannten Welt errichtet hatte, auch so ein Weltwunder wie Canrif. Er hatte aus diesem Felsmassiv eine fast uneinnehmbare Festung herausgeschlagen, für Wärme, Licht und Lüftung gesorgt und eine Wohnung geschaffen für all die so unterschiedlich gearteten Volksgruppen, die mit ihm und der letzten Flotte hierher gekommen und über dreihundert Jahre zusammengeblieben waren.
Zum Schluss führte Rhapsody ihn durch einen langen Flur zum einstigen Thronsaal, der Großen Halle von Canrif, das nun Ylorc genannt wurde. Dort traf er nun auch die beiden an, die er schon auf dem Markt von Bethe Corbair kennen gelernt hatte das Mädchen Jo und diesen unausstehlichen Mann namens Achmed.
Des Weiteren war da ein riesiger Bolg, allem Anschein nach ein Mischling, den Rhapsody mit dem Namen Grunthor und als Hauptmann der Garde vorstellte, worauf der Riese die Hacken zusammenschlug und nickte, ansonsten aber schwieg. Jo zappelte aufgeregt herum, war aber offenbar schon zurechtgewiesen worden und hielt sich lächelnd zurück.
»Was führt dich hierher?«, fragte Achmed geradeheraus.
Ashe seufzte heimlich. Vielleicht hätte er lieber doch nicht kommen sollen. Rhapsody antwortete für ihn.
»Wir haben ihn eingeladen, Achmed. Erinnerst du dich nicht? Du warst doch dabei.« Sie wandte sich Ashe zu, schaute ihm in den Ausschnitt der Kapuze und war fast mit ihm auf Augenhöhe. »Es freut uns, dass du gekommen bist. Nicht wahr, Jo?« Sie lächelte, und Ashe spürte, wie seine Knie zu zittern anfingen.
»Ja«, sagte Jo.
»Wann reist du wieder ab?«, fragte Achmed.
»Achmed! Verzeih, Ashe. Er wollte eigentlich fragen, wie lange du bleiben kannst. Wir möchten uns darauf einstellen.« Rhapsody warf Achmed einen strafenden Blicke zu, um dann dem Gast sogleich wieder zuzulächeln. Ashe hatte Mühe, den Blick von ihr loszureißen, was aber nötig war, denn er musste auf der Hut bleiben.
»So lange ich willkommen bin«, antwortete er.
»Danke für den Besuch. Schön, dich zu sehen«, sagte Achmed.
»Achte gar nicht auf ihn. Er versucht, witzig zu sein, was ihm aber nie so recht gelingen will.«
Rhapsody errötete vor Verlegenheit und Wut.
»Ich kann ohnehin nicht lange bleiben«, sagte Ashe, fasziniert von Rhapsodys kaleidoskopisch wechselndem Mienenspiel. Mal war ihr Ausdruck warm und herzlich, mal wutentbrannt. Er hätte ihr stundenlang ins Gesicht schauen können, ohne dass ihm dabei langweilig geworden wäre.
»Wir haben die Unterkünfte für Botschafter herrichten lassen, weil wir jetzt, da mit Roland und Sorbold Friedensverträge unterzeichnet sind, deren Gesandtschaft bei uns erwarten. Dort wirst du ein angenehmes Quartier finden.«
»Wie bitte?« Ashe hatte von der Niederlage des Heers von Roland gehört; diese Nachricht war in aller Munde. Aber dass es schon vertragliche Vereinbarungen gab, war ihm neu. Die drei Achmed, Grunthor und Rhapsody – regierten doch erst seit wenigen Monaten. Es erschien ihm geradezu unmöglich, dass in so kurzer Zeit schon Gespräche aufgenommen, geschweige denn zum Abschluss gebracht worden waren. Das Zustandekommen des Friedensschlusses zwischen Roland und Sorbold hatte seinerzeit fast zweihundert Jahre in Anspruch genommen. Wieder sah sich Ashe vor einem Rätsel. Die drei schienen ungemein mächtig und einflussreich zu sein.
Sie waren zu dritt. Eine bedeutungsvolle Zahl, dachte Ashe, obwohl er den alten Prophezeiungen nicht glauben mochte. Wie auch immer, das Mädchen Jo schien zwar auf diesem Kontinent geboren zu sein, die drei anderen aber kamen offenbar woanders her. Trotzdem, angesichts einer solch einmaligen Fülle von Macht war selbst Ashe geneigt, an längst aufgegebene Hoffnungen wieder anzuknüpfen. Rhapsody lachte. »Warum so überrascht? Vor wenigen Wochen haben wir zuerst mit Roland und dann auch mit Sorbold einen Nichtangriffspakt und Handelsverträge geschlossen. Die Bolg stellen wieder eine Macht dar, mit der zu rechnen ist, und zwar im positiven Sinne. Sie sind keine marodierenden Banden mehr, sondern zuverlässige Wirtschaftspartner.«