Wie um ihre Worte zu verhöhnen, tönte aus dem Hintergrund plötzlich lautes Geschrei, das von den Felswänden widerhallte. Grunthor stürmte nach draußen in den Flur. Ihm folgten die anderen auf dem Fuß. Weit brauchten sie nicht zu laufen, denn schon kam ihnen ein Bote entgegen. Er war blutüberströmt.
Rhapsody kam vor Ashe hinter Achmed und Grunthor zu stehen und hörte, was der Bote zu berichten hatte.
»Was ist passiert?«, wollte Ashe wissen.
»Die Hügel-Augen greifen an. Idioten. Achmed hat versucht, sie zu einem Bündnis zu bewegen, doch sie weigern sich und fallen jetzt über andere Stämme her, die sich uns angeschlossen haben.«
»Hurra!«, brüllte Jo, die hinter Ashe aufgekreuzt war. »Endlich geht’s wieder mal rund; es war schon richtig langweilig hier. Ich hole dir schnell deinen Bogen, Rhaps.« Und schon rannte sie in Richtung Unterkünfte davon.
Ashe tippte Rhapsody auf die Schulter. Sie wirkte verärgert, aber nicht alarmiert. »Kann ich irgendwie helfen?«
»Du kannst dich gern nützlich machen. In Zeiten wie diesen ist uns jede Hilfe willkommen. Den Bolg fehlt es noch ein bisschen an Disziplin. Sie geraten leicht in Panik, sobald es zum Kampf kommt, vor allem wenn es gegen die Hügel-Augen geht. Das ist der wildeste, blutrünstigste Klan von allen.«
Ashe nickte. »Ich helfe gern. Du musst mir nur sagen, wie.«
»Danke.« Rhapsody lächelte. »Komm mit.«
Der Brennstoff für die Feuer, die die Höhenwege im Gebirge beleuchteten, bestand aus ranzigem Fett, was einen übel stinkenden Rauch aufsteigen ließ, der Rhapsody den Atem benahm und ihr in den Augen brannte.
Sie hatte gerade den letzten Wachposten der Hügel-Augen mit einem schnellen Hieb auf den Oberschenkel zu Fall gebracht, als sich ihr eine knochige Hand um den Arm schraubte.
»Sieh nur!«, hörte sie Achmeds raue Stimme, deren Klang nichts Gutes verhieß.
Sie fuhr mit dem Kopf herum und bekam ihren Gast zu Gesicht, der sich trotz des weiten, verhüllenden Umhangs als ein erstaunlich gewandter und schneller Kämpfer entpuppte.
Auf sich allein gestellt, stand er in einem Ring aus gefallenen Gegnern, die er selbst niedergestreckt hatte, und erwehrte sich ungestümer Attacken mit verblüffender Leichtigkeit. Es schien fast, als versuchte er seine Widersacher nach Möglichkeit zu verschonen.
In einer verwirrenden Abfolge von Bewegungen, die so schnell ausgeführt waren, dass sie mit ihren Blicken kaum folgen konnte, führte Ashe sein Schwert, das in der Dunkelheit blau aufblitzte. Alle, die gegen ihn antraten, gingen, einer nach dem anderen, zu Boden.
»Er ist gut«, murmelte Rhapsody und sah, wie er zur Seite sprang und einen Schlag parierte, der auf Jo gezielt war. »Fast so gut wie du, Achmed. Wenn der Vergleich überhaupt gestattet ist. Was meinst du, Grunthor?«
»Nich schlecht in Form, der Knabe«, pflichtete ihr der Sergeant bei. »Und wie findest du ihn, Achmed?«
Achmed kniff die Brauen zusammen und setzte eine finstere Miene auf.
»Er ist offenbar um einiges gefährlicher, als ich gedacht hatte.«
Es war kurz nach Mitternacht. Achmed saß allein im Dunkeln und dachte nach.
Die Ereignisse des Tages hatten ihn verstört. Der gescheiterte Angriff auf Canrif machte ihm am wenigsten zu schaffen; mit einem solchen letzten Aufbegehren gegen seine Herrschaft hatte er gerechnet. Weitaus irritierender fand er diesen mysteriösen Fremden, der über erstaunliche Fähigkeiten verfügte und Rhapsody wie ein Schatten folgte.
Er fragte sich, ob Ashes Ankunft und der schlecht geplante Angriff der Hügel-Augen womöglich in irgendeinem Zusammenhang miteinander standen, und er dachte zurück an die seltsamen Vorkommnisse, die er auf seiner Wanderung vom Weißen Baum durch Navarne bis hin nach Ylorc allenthalben und immer wieder miterlebt hatte: jene mörderischen Feindseligkeiten, die urplötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund über friedliche Ortschaften hereinbrachen und alsbald wieder eingestellt wurden, als wären sie ein bedauerliches Versehen gewesen. Der Gedanke, dass diese Gefahr womöglich nun auch seinem Königreich drohte, bereitete ihm große Sorgen.
Nachdem der Angriff niedergeschlagen worden und noch bevor Grunthor mit seinen Truppen losgezogen war, um den Nachzüglern der aufständischen Hügel-Augen entgegenzumarschieren, hatte er sich kurz mit dem Freund beraten, dem Ashe genauso wenig geheuer war wie ihm. Ehe er den Fremden kämpfen gesehen hatte, hatte Achmed ihn für einen Nichtsnutz und Aufschneider gehalten, und in seiner Einschätzung anderer lag er sehr selten falsch.
Auch für Grunthor stand jenseits allen Zweifels fest, dass dieser Fremde ein überaus tüchtiger Schwertkämpfer war. Es wollte Achmed einfach nicht in den Kopf gehen, dass er mit seinem ersten Urteil so sehr daneben gelegen hatte.
Einen Gegner zu taxieren und aufgrund seiner Körperhaltung und seiner Bewegungen zu ermessen, wie er sich im Kampf schlagen würde – darin war er sonst absolut treffsicher. Aber Ashe hatte etwas an sich, das sich einer solchen Einschätzung widersetzte. Er war so nebulös, so undefinierbar, ja, ein leibhaftiges Rätsel, das Achmed umso mehr verunsicherte, als Rhapsody von der seltsamen Ausstrahlung dieses Mannes überhaupt nichts zu spüren schien.
Zur Verteidigung von Canrif hatte Ashe freiwillig zur Waffe gegriffen, sich den Angreifern in den Hallen des Kessels mutig entgegengeworfen und im Handumdrehen ein halbes Dutzend von ihnen niedergemacht. Anschließend war er Grunthor nach draußen ins Gebirge gefolgt.
Anfangs hatte er all diejenigen Angreifer abgefangen, die am Sergeanten vorbeigekommen waren, und mit bewundernswert ausgefeilter Schwerttechnik zur Strecke gebracht, so schnell, dass die Klinge kaum zu sehen gewesen war oder allenfalls als blau schimmernder Schatten im Halbdunkel. Und wenn er sie nicht brauchte, steckte er die Waffe schnell in die Scheide zurück, bevor Grunthor sie genauer in Augenschein nehmen konnte.
Trotz seiner überlegenen Leistungen war Ashe sehr bescheiden. Er ordnete sich wie selbstverständlich unter, führte die ihm gegebenen Befehle anstandslos aus und kämpfte an jeder Front; gutmütig bot er Jo Rückendeckung, so unauffällig, dass es sie in ihrer Eitelkeit als Kämpferin nicht kränkte. Und obwohl es auffiel, dass er besonders gern an Rhapsodys Seite kämpfte, murrte er nicht, wenn Grunthor ihn auf eine andere Position schickte. Insgesamt war er an der Niederschlagung des Aufstands in einem Maße beteiligt, das selbst Grunthor größten Respekt abverlangte.
Achmed saß allein in der spärlich beleuchteten Großen Halle des Kessels und überlegte, was nun zu tun war. Die Gefühle, die ihn bewegten, gefielen ihm ganz und gar nicht. Weil ihm Eifersucht vollkommen fremd war, konnte er sie als solche auch nicht erkennen.
Zum ersten Mal seit seiner Inthronisierung als Kriegsherr nahm er den ranzigen Gestank dieses Ortes zur Kenntnis, einen Gestank, der ihm in der Kehle brannte und ihn zum Würgen reizte. Schließlich gelangte er zu der Auffassung, dass es wohl besser wäre, die Anwesenheit des Fremden noch eine Weile zu ertragen und zu versuchen, ihn näher kennen zu lernen. Ashe zu vertreiben hatte keinen Sinn; er würde ohnehin über kurz oder lang zurückkehren. Umso wichtiger war es, seine Absichten und Motive zu ergründen. Achmed ahnte, dass er mit dem Befund, wie immer er auch ausfallen mochte, nicht zufrieden sein würde.
Rhapsody öffnete das Schloss, stieß die schwere Tür auf und trat dann zur Seite, um Ashe in die für Gäste eingerichtete Kammer eintreten zu lassen.