Nur noch ein paar Tage, redete er sich Nacht für Nacht ein, wenn er in seinem Bett lag und darüber nachdachte, was sie wohl träumen mochte. Achmeds Wille setzte sich auch innerhalb der Felsgemäuer durch, sodass es Ashe nicht gelingen wollte, ihr mit seinem Spürsinn nachzustellen. Das beunruhigte ihn.
Ein paar Tage später sollte sich all das ändern. Achmed und Grunthor waren unterwegs, um Höhlen zu erforschen. Mit Rhapsody als Zuschauerin lieferten sich Ashe und Jo gerade einen Wettkampf im Messerwerfen, als die beiden Bolg von ihrem Ausflug zurückkehrten. Sie waren bei bester Laune, wie es schien.
»Sieh mal, was wir gefunden ham, Gräfin«, rief Grunthor und reichte ihr eine schmale, mit Edelsteinen besetzte Kassette. Sie wies keinen einzigen Kratzer auf und war aus dem dunklen, blaustichigen Holz der Hespera gemacht, einem im Verborgenen Reich beheimateten Baum, aus dem viele der alten Möbel, die sie in Canrif vorgefunden hatten, getischlert worden waren. Der Deckel ließ sich über zwei kleine goldene Scharniere aufklappen. Ein Schloss gab es nicht.
»Das Ding lag verschüttet unter einem Haufen von Kisten und Kästen«, berichtete Achmed und schenkte sich aus einer Karaffe ein Glas Wein ein.
Rhapsody öffnete die Kassette mit gebotener Vorsicht. Darin lag ein krummer, schartiger Dolch mit beinernem Griff und einer Klinge, die, der Farbe nach zu urteilen, aus einer Kupfer-Gold-Legierung geschmiedet zu sein schien.
»Seltsam.« Vorsichtig nahm sie den Dolch aus der Kassette und wog ihn in der Hand. »Eine Waffe aus rotem Gold. Wer denkt sich denn so etwas aus? Eine solche Klinge ist doch viel zu weich. Und handwerklich ist sie auch nicht sonderlich gut gemacht. Seht nur, all die Macken an der Oberfläche.«
»Vielleicht wär’s nur ein zeremoniell genutzter Gegenstand.«
Rhapsody schloss die Augen und lauschte. In der Luft rings um den Dolch nahm sie ein deutliches Summen wahr. Alarmiert schlug sie die Augen wieder auf. »Himmel! Ich glaube, ich weiß, was es ist«, hauchte sie und wurde schlagartig bleich im Gesicht.
»Was denn?«
»Das ist die Kralle eines Drachen. Seht doch.« Sie hob das Fundstück in die Höhe. Tatsächlich, da gab es keinen Zweifel, und aus der Größe war zu schließen, dass der Drache gigantische Ausmaße gehabt haben musste.
»Gerade das richtige Schwert für unser kleines Mädchen«, sagte Grunthor.
»Du spinnst wohl«, platzte es aus Rhapsody heraus, was sie aber angesichts der betroffenen Miene des Riesen sofort bereute. »Tut mir Leid, Grunthor«, sagte sie. »Mir ist nur sogleich eine Geschichte eingefallen, die in unserer alten Heimat erzählt wurde. Darin heißt es, dass Drachen besonders eigensinnige Lebewesen sind, die ihre Schätze sehr eifersüchtig hüten. Sollte der Drache, dem diese Kralle gehört, noch am Leben sein, wird er wissen, wer sie hat, oder danach suchen und nicht ruhen, bis er sie wieder gefunden hat. Ich will nicht, dass Jo auch nur in die Nähe dieses Dings kommt. Vielmehr rät sich wohl, dass wir es von hier wegschaffen. Vielleicht sollten wir es ihr zurückbringen.«
»Ihr?«
»Elynsynos, Anwyns Mutter. Erinnerst du dich nicht? Llaurons Großmutter. Oder weiß jemand von einem anderen Drachen, der in diesem Land gelebt hätte?«
»Das Ding liegt hier nun schon seit Jahrhunderten«, entgegnete Achmed in gereiztem Tonfall. »Warum sollte sie es jetzt noch zurückhaben wollen?«
»Vielleicht hat sie die Spur verloren, weil die Kralle in einem versiegelten Gewölbe lag. Jetzt aber, da ihr sie wieder ins Freie geholt habt, wird sie Wind davon bekommen. Damit ist wirklich nicht zu spaßen, Achmed. Gleich zu Anfang unserer Gesangsausbildung wurden uns Geschichten von Drachen und anderen Erstgeborenen erzählt. Viele dieser Geschichten handeln von der Rache dieser Wyrmer an denen, die sich an ihren Schätzen vergriffen haben. Wir sollten uns wirklich ein paar ernste Gedanken über diese Kralle machen. Sonst könnte es womöglich passieren, dass wir eines Nachts aufwachen, und es regnet Feuer vom Himmel.«
Grunthor seufzte. »Wenn ich wieder mal was Schönes finde, werd ich’s dir bestimmt nich zeigen«, maulte er.
»Sie könnte aber Recht haben«, erwiderte Achmed und ließ damit die anderen überrascht aufmerken. Auch er kannte die von ihr angesprochenen Geschichten – und noch bedrohlichere. »Aber ob es das Richtige ist, die Kralle zurückzubringen, halte ich für fraglich. Vielleicht sollten wir damit auf die höchste Bergspitze steigen und sie hinaus auf das Plateau werfen. Wenn die Drachenfrau tatsächlich noch lebt, wird sie sie finden.«
»Oder jemand anders findet sie«, entgegnete Rhapsody. »Da könnte doch zufällig einer vorbeikommen, der die Kassette findet und aufmacht. Dieser Unglücksrabe wäre rettungslos verloren. Und außerdem glaube ich kaum, dass die Drachenfrau einverstanden damit wäre, wenn wir etwas, an dem ihr so viel liegt, einfach achtlos von einem Berg herunterwerfen würden, als wäre es Abfall.«
Jo hatte die Bolg-Kinder der Felsenstadt organisiert und kleine Gruppen gebildet, die sich nützlich machten, indem sie den Unrat einsammelten, mit dem die Umgebung seit Jahrhunderten verschmutzt worden war. »Dass hier jemand irgendetwas in die Landschaft schmeißt, kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte sie.
»Und was schlägst du stattdessen vor?«, fragte Achmed, an Rhapsody gewandt.
»Ich mache mich mit der Kralle auf den Weg und bringe sie ihr zurück«, antwortete sie. »Das könnte eine interessante Reise werden, auf der sich einiges zum Thema Drachenkunde dazu-lernen ließe, und zwar aus erster Hand.«
»Nein.«
»Wie bitte?« Rhapsody zog die Stirn in Falten und deutete damit an, dass sie keinen Widerspruch duldete.
»Ich sagte, nein«, wiederholte Achmed. »Wenn ich mich richtig erinnere, wär’s doch Elynsynos, die, weil Merithyn nicht zurückkehrte, vor Wut in Raserei geraten ist und ihre kleinen Kinder im Stich gelassen hat. Stimmt’s?«
»Ja«, räumte sie ein.
»Und der willst du einen Besuch abstatten und sagen: ›Hier, das haben wir gefunden. Ich geh dann gleich mal wieder‹? So wird das nicht laufen. Und außerdem, hast du überhaupt eine Ahnung, wo sie sich zurzeit aufhält?«
»Ich weiß es«, sagte Ashe leise. Er hatte bislang stumm dagesessen und der Unterhaltung interessiert und zugleich ein wenig amüsiert zugehört. Die Frauen zuckten verschreckt zusammen, als er plötzlich die Stimme erhob, denn dass er noch anwesend war, hatten sie vergessen. »Ich könnte dich zu ihr führen.«
»Nein«, wiederholte Achmed mit Nachdruck.
»Weißt du was Besseres?«, fragte Rhapsody, deren Ärger merklich zunahm.
Achmed seufzte und warf einen Blick in Ashes Richtung. »Vielleicht sollte ich statt nein lieber sagen noch nicht. Es könnte tatsächlich interessant sein zu erfahren, wie sie reagieren wird und ob sie womöglich sogar mit einer Belohnung herausrückt.«
»Du willst doch nicht etwa mit einem Drachen feilschen?«, warf Ashe ein, und es war seiner Stimme nicht anzuhören, ob er entrüstet war oder belustigt. Wie auch immer, seine Frage machte Achmed wütend.
»Unsinn. Es geht mir nur darum, dass sie sich gegebenenfalls daran erinnert, wem sie die Rückgabe der Kralle zu verdanken hat.«
Rhapsody wurde ungeduldig. »Ich will kein Risiko eingehen«, sagte sie. »Ashe weiß, wo sie steckt.«
»Schön. Dann kann er uns ja einen Lageplan zeichnen und beschriften, vorausgesetzt natürlich, er kann schreiben.«
Ashe lachte. »Von wegen. Aber falls morgen noch Interesse besteht, könnten wir Vorbereitungen für die Reise treffen. Jetzt würde ich mich gern verabschieden und allen eine gute Nacht wünschen.«