Im Nachhinein war Rhapsody selbst ins Grübeln geraten. Um Jo zum Nachgeben zu bewegen, hatte sie ganz ähnliche Argumente angeführt wie Achmed und Grunthor bei dem Versuch, ihr, Rhapsody, das Vorhaben auszureden. Diese Einsicht hatte zur Folge, dass sie nun selbst am Sinn und Zweck ihrer Unternehmung zweifelte.
Den letzten Tag hatte sie mit Achmed allein verbracht und ihren Plan in allen Einzelheiten durchgesprochen.
»Gibt es etwas, von dem du ganz und gar nicht willst, dass er’s erfährt?«, fragte sie nach einem stillen Abendessen in seinen Gemächern.
Achmed schaute ihr in die Augen. »Etwas? Alles.« Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht. »Erzähl ihm, was du willst.«
Rhapsody war überrascht. »Meinst du das ernst?«
»Ja. Ich glaube, du bist vernünftig genug, entscheiden zu können, was er erfahren darf und wovon er nichts wissen sollte.«
»Das bin ich. Und ich werde die Augen offen halten und euch Nachricht zukommen lassen, falls es irgendwo zu weiteren dieser rätselhaften Gewaltausbrüchen kommt.«
Achmed nickte. »Bring dich ja nicht unnötig in Gefahr. Achte bitte darauf, dass es möglicherweise eine Verbindung zwischen Ashe und diesen Gewaltausbrüchen gibt. Den Verdacht habe ich schon seit einiger Zeit.«
»Was soll das heißen?«, fragte Rhapsody bestürzt.
»Die Hügel-Augen haben angegriffen, als er aufgekreuzt ist. Davor waren die letzten beiden Aufstände, von denen wir gehört haben, in der Nähe von Bethe Corbair – der eine kurz vor unserer Begegnung in der Stadt, der andere kurz danach. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang.«
Sie erschauderte. »Ich kann nur hoffen, dass du dich irrst.«
»Das hoffe ich auch. Denn jetzt ist es wohl zu spät für dich, die Reise abzublasen.«
Rhapsody dachte einen Augenblick lang nach. »Das Risiko einzugehen und schlimmstenfalls noch eingreifen zu können ist besser, als den Kopf in den Sand zu stecken«, antwortete sie. Achmed nickte. Er war ihrer Meinung.
Achmed, Grunthor und Jo waren gekommen, um Abschied zu nehmen, als sie und Ashe am Morgen des fünften Tages aufbrachen. Sie umarmte und küsste alle drei und versicherte ihnen, dass sie alles daransetzen werde, gesund und wohlbehalten zurückzukehren. Dann waren sie losmarschiert.
»Sie kommt nicht wieder, oder?«, sagte Jo unter Tränen, als die beiden hinter dem nächsten Felsgrat verschwanden. Die gewohnte gleichgültige Miene aufzusetzen wollte ihr einfach nicht gelingen, so traurig war sie.
»Ach, wo denkst du hin«, antwortete Grunthor und legte ihr den massigen Arm um die Schulter. »Die Gräfin ist zäher als es scheint. Das solltest du inzwischen wissen.«
Fuchtig wischte sich Jo die Augen. »Sie wird sterben, und ich bleib dann hier mit euch allein zurück. Wundervoll.«
Achmed schmunzelte. »Immerhin würdest du gesellschaftlich aufsteigen. Du wärst dann die neue Gräfin von Elysian und könntest bei Hofe die Rolle der fremden blonden Dame besetzen, es sei denn, dir würde anderswo ein besseres Angebot gemacht.
»Du kannst mich mal...«, zischte Jo und ging.
Grunthor schirmte die Augen vor dem Licht der aufgehenden Sonne ab. Er wirkte nachdenklich und besorgt. »Angenommen, sie käme tatsächlich um. Wie würden wir davon erfahren?«
Achmed zuckte mit den Schultern. Er spähte mit den Augen des Jägers gen Westen, vergeblich auf der Suche nach einer Spur von ihr oder einem Schatten. »Wahrscheinlich überhaupt nicht. Aber vielleicht würden wir ihr letztes Lied im Wind hören. Die Benenner der Lirin singen noch im Sterben.« Er seufzte stumm. Vielleicht würde er auch mitbekommen, wie ihr Herzschlag, dieser rhythmische, beruhigende Laut, den er auf der Haut spürte, plötzlich aussetzte. Er verdrängte den unliebsamen Gedanken. »Wir werden auch ohne sie zurechtkommen. Ist dir aufgefallen, dass sie ganz anders geklungen hat, als sie sagte, es werde ihr gut gehen und wir hätten keinen Grund zur Sorge? Nach einer Benennerin klang das nicht.«
Grunthor nickte. »Weil sie nicht sicher sein konnte, dass sie die Wahrheit sagt.«
Als sie und Ashe den letzten Gipfelgrat erreicht hatten, drehte sich Rhapsody noch einmal um und schaute nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Sie beschirmte die Augen und fragte sich, ob die drei langen Schatten, die sie in der Ferne sah, tatsächlich die der Freunde waren oder doch bloß von den Felsen und Klüften geworfen wurden, die sich in den Himmel reckten. So oder so, sie hob die Hand und winkte.
Der Blick zurück auf die Berge, die mehr und mehr in den Hintergrund rückten, machte sie beklommen. Ein Gefühl von Verlust und Trauer stellte sich ein und schnürte ihr die Kehle zu wie damals in jener Nacht vor langer Zeit. Meine Familie, dachte sie; wieder lasse ich meine Familie zurück.
Irgendwo dahinten, inmitten der Berge, war etwas Großes im Entstehen begriffen, eine neue Ära angebrochen. Ein Volk, für das sie früher nur wenig Respekt hatte aufbringen können, trat aus dem Verborgenen seiner dunklen Felshöhlen ins Freie, um gemeinsam an einer glücklicheren Zukunft zu arbeiten. Und diesmal sollten ihm die Berge nicht Versteck sein, sondern der fruchtbare Boden für großartige Leistungen.
Vor den Firbolg hatte sie längst keine Angst mehr; sie hatte Angst um die Firbolg.
Ihnen drohte nicht nur Gefahr von der blutdürstigen Drachenfrau, die irgendwo am nebelverhangenen Rand der Welt hauste, sondern auch von den Nachbarn. So verschieden die Menschen dieser Länder von ihren einstigen Landsleuten aus Serendair auch sein mochten, in einer Hinsicht waren sie sich auf erschreckende Weise gleich: Sie hielten die Bolg für Ungeheuer und trachteten danach, sie zu vernichten.
Ein frischer Wind fegte wirbelnd durch die Zahnfelsen und vertrieb den Morgendunst aus den Schluchten wie auch den Trübsinn aus ihrer Seele. Ihr wurde warm ums Herz, als sie nun noch einmal zurückblickte auf den Ort, wo ihre Freunde wohnten und die Bolg zu neuem Leben erwachten. Einmal hatte sie im hohen Gras gekauert, unschlüssig, an wen sie sich halten sollte – an die beiden, die ihr in Ostend aus der Klemme geholfen hatten, oder an das Volk, dem ihre Mutter angehörte. Einen solchen Konflikt gab es jetzt für sie nicht mehr.
Im Morgenwind hörte sie die Stimme des Vaters an ihrem Ohr flüstern.
Wenn du in deinem Leben findest, was dir wichtiger und teurer ist als alles andere, bist du es dir schuldig, dass du daran festhältst. Einen solchen Fund machst du kein zweites Mal, mein Kind. Lass dich durch nichts davon abbringen. Auf lange Sicht werden dir auch die Leute zustimmen müssen, die dir anfangs etwas anderes einzureden versucht haben. Finde das, was wirklich zählt – alles andere ergibt sich von selbst.
Ihre Heimat war bei den Bolg und ihren Freunden; ihnen gehörte ihre unverbrüchliche Treue. Um sie zu schützen, war jedes Risiko gerechtfertigt.
»Schau mal«, sagte Ashe und weckte sie mit seiner angenehmen Stimme aus ihren nachdenklichen Träumen. Rhapsody drehte sich um und folgte seinem Fingerzeig auf die entfernten Schatten an der Grenze zwischen der felsigen Steppe und dem Tiefland dahinter.
»Was ist das?«
»Sieht aus wie eine Karawane«, antwortete er.
Rhapsody nickte. »Gesandte mit ihrem Tross«, sagte sie leise. »Sie kommen, um Achmed ihre Aufwartung zu machen.«
Trotz seiner verhüllenden Schleier war deutlich zu sehen, dass Ashe zitterte. »Ich beneide sie nicht«, sagte er humorig. »Sie werden mit ihren Vorstellungen von Protokoll und Etikette wahrscheinlich schwer ins Schleudern kommen.«
Rhapsody blickte in den dunklen Ausschnitt seiner Kapuze und sah nichts als dünne Dampfschlieren. Ihre Kopfhaut priekelte, als sie vergeblich nach seinen Augen suchte, nach einem mimischen Ausdruck. Ashe schien sich unter den Bolg durchaus wohl gefühlt zu haben und war als höflicher, unvoreingenommener Besucher aufgetreten, doch daraus ließ sich für Rhapsody kein verlässlicher Schluss folgern. Die Kapuze barg womöglich ein schrecklich düsteres Geheimnis. Und selbst wenn sie einen Blick auf sein Gesicht erhaschen könnte, bliebe ihr doch sein Herz verborgen.