Daraufhin setzte Grunthor den Helm wieder auf, wandte sich Rhapsody zu und fing angesichts ihrer entgeisterten Miene lauthals an zu lachen.
»Bist wohl schwer beeindruckt, Schätzchen, was? Komm mit!« Er drehte sich um und ging davon. Rhapsody zögerte, folgte ihm dann aber, weil sie sich dachte, dass es nicht besonders klug wäre, den Riesen zu verärgern. Hinterher hastend, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. »Wohin geht’s? Laufen wir jetzt die ganze Strecke zu Fuß weiter?«
»Ach was. Wir warn heute lang genug unterwegs.«
Ein voller Mond war am Horizont aufgetaucht und stieg aus der Nebelbank, die über dem Meer lag. Mit seinem mattgoldenen Licht kam er aber nicht gegen die undurchdringliche Dunkelheit der Nacht an. Auf ihr Auge konnte sich Rhapsody nicht mehr verlassen; jetzt halfen nur noch Ohr und Tastsinn. Der Riese aber, dem sie folgte, schien sehen zu können, wohin er seine Füße setzte. Zielsicher führte er sie an eine Stelle, wo ein kleines Feuer brannte, in das sie fast hineingetreten wäre, hätte er sie nicht davon abgehalten.
Das Lager war schon bereitet. Ob sie das Feuer nicht gesehen hatte, weil ihr der Riese die Sicht darauf versperrt hatte oder weil es so gut versteckt war, wusste sie nicht zu sagen.
Grunthor rückte an die Windseite des Feuers, nahm den Helm ab und holte tief Luft, ehe er auf dem Boden Platz nahm. Rhapsody stellte sich auf die andere Seite, wo sie zwar seinen Blicken ausgesetzt war, aber immerhin das Feuer schützend vor sich hatte. Dafür nahm sie auch den Rauch in Kauf, der ihr ins Gesicht wehte.
Die Flammen boten ihr ausreichend Licht, um den Riesen in Augenschein zu nehmen. Der war, obwohl er saß, mit ihr, die stand, auf gleicher Höhe und wirkte so massig und breit wie ein Brauereipferd.
Unter seinem schweren Soldatenmantel sah sie einen Teil der Rüstung schimmern, die einen fremdländischen und kostbaren Eindruck auf sie machte. Sie schien aus geschupptem Reptilienleder zu bestehen und wurde von Metallspangen zusammengehalten, die so geschickt verarbeitet waren, dass sie keinerlei Geräusche von sich gaben. Auch von den Waffen hatte sie bislang nichts gehört, kein Klirren, kein Kratzen. Dabei trug er eine enorm schwere Axt und mehrere lange Messer, und hinter der Schulter staken etliche Hefte und Schäfte hervor.
Das Gesicht konnte einem noch mehr Angst machen. Zwischen den Lippen trat immer mindestens ein Zahn zum Vorschein, und welche Farbe seine ledrige Haut hatte, war im Schein des Feuers nur schwer zu bestimmen. Augen, Ohren und Nase waren übermäßig groß, weshalb Rhapsody davon ausging, dass er überdurchschnittlich gut sehen, hören und riechen konnte. Die Finger der großen Pranken glichen der langen Nägel wegen gefährlichen Klauen. Überhaupt schien er einem Albtraum entstiegen, so schauderhaft sah er aus.
Er kramte gerade etwas Essbares und eine Art Topf aus seinem Gepäck und würdigte sie immer noch keines Blickes.
»Lass mich raten; du hast zwar schon von Firbolg gehört, aber es ist dir noch nie einer zu Gesicht bekommen. Hab ich Recht?«, tönte die Stimme des anderen unmittelbar hinter ihr.
Sie hatte ihn nicht kommen hören und fuhr erschrocken zusammen. Den Blick über die flackernden Flammen hinweg auf den Riesen gerichtet, sagte sie: »Du bist ein Firbolg? So siehst du gar nicht aus.«
»Was soll das heißen?«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen«, sagte sie errötend. »Zugegeben, meine Erfahrungen sind begrenzt, und ich dachte immer, Firbolg wären regelrechte Ungeheuer.«
»Und ich, beschränkt wie ich bin, dachte immer, ein Lirin könnte allenfalls als Vorspeise taugen«, antwortete Grunthor unbekümmert und ohne jede Boshaftigkeit.
»Es wäre vielleicht ganz gut, wenn ihr eure falschen Annahmen voneinander korrigieren würdet«, schlug der Maskierte vor.
»Allerdings«, sagte Rhapsody, die, obwohl sie schmunzelte, schauderte bei der Vorstellung, dass der Riese nicht etwa scherzte, sondern seine Entgegnung durchaus ernst gemeint hatte.
Der schlanke Mann warf dem Riesen ein paar tote Kaninchen vor die Füße. »Wer bist du eigentlich?«
»Ich heiße Rhapsody. Ich studiere Musik, bin eine Sängerin.«
»Und warum war die Stadtwache hinter dir her?«
»Da ist so ein Schwachkopf, der will, dass ich zu ihm komme, und er hat die Wache auf mich angesetzt, wie’s scheint.«
»Warum will er, dass du zu ihm kommst?«
»Er will sich wohl mit mir amüsieren.«
»Hat dieser Schwachkopf einen Namen?«
»Er nennt sich Michael, Wind des Todes. Aber hinter vorgehaltener Hand geben wir ihm Namen, die noch weniger schmeichelhaft sind.«
Die beiden Männer sahen einander an. Den Blick erneut auf sie gerichtet, fragte der Verhüllte: »Woher kennst du ihn?«
»Er war leider einer meiner Kunden, als ich vor drei Jahren auf den Strich gegangen bin«, antwortete Rhapsody freimütig. »Wer in diesem Gewerbe arbeitet, hat keine große Wahl. Leider bin ich ihm zu Kopf gestiegen, und er hat mir vorausgesagt, dass er nach mir schicken werde. Aber ich dachte, er schneidet bloß auf, und habe mich nicht weiter darum geschert. Das war mein erster Fehler. Der zweite folgte heute, denn ich habe ihm und seinen schmierigen Handlangern, die mich holen sollten, einen Korb gegeben. Seinen gewöhnlichen Dienern hätte ich ohne weiteres entkommen können, aber offenbar hat er es inzwischen irgendwie geschafft, die Stadtwache für seine Zwecke einzuspannen.«
»Warum musstest du ihm einen Korb geben? Du hättest dich doch auch zum Schein auf ihn einlassen und dann heimlich verschwinden können?«
»Das wäre gelogen gewesen.«
»Na und?«, entgegnete der Verhüllte.
»Ich lüge nie. Ich kann gar nicht lügen.«
Grunthor kicherte. »Du hast, wie’s scheint, ein gnädig kurzes Gedächtnis. Ich kann mich jedenfalls noch gut daran erinnern, dass du der Wache gesagt hast, wir warn miteinander verwandt. Ich stell mir ein Familientreffen mit dir vor ... du würdest dich in unserer Runde ziemlich seltsam ausmachen.«
»Nein«, schaltete sich der andere ein und sah sie mit wachen Augen an. »Jetzt verstehe ich, warum du uns vorher gedrängt hast, dich zu adoptieren.«
Rhapsody nickte. »Genau. Mit falschen Ausflüchten hätte ich sie nicht beeindrucken können.«
»Warum nicht?«
»In dem Beruf, den ich gewählt habe, ist es verboten zu lügen. Wer nicht immer die Wahrheit sagt, kann kein Benenner sein, das heißt kein Sänger in Vollendung. Man muss bei allem, was man sagt, darauf achten, dass die Musik immer im Einklang mit der Welt ringsum steht. Eine Lüge stört diesen Einklang und besudelt das Gesagte. Allerdings es ist nicht immer leicht, wahr und falsch exakt auseinander zu halten, denn Wahrheit verschiebt sich häufig mit dem Blickwinkel, den man einnimmt. Nun, das ist der akademische Grund. Es gibt auch noch einen ganz persönlichen: Meine Eltern haben mir eingeschärft, dass Täuschung auf jeden Fall schlecht ist. Und seit meiner Zeit als Hure weiß ich Wahrheit noch sehr viel höher einzuschätzen. In diesem Gewerbe kommt sie kaum vor, als Hure ist man immer irgendeines Freiers Lüge. Man muss sich selbst auf die Zunge beißen und anderer Leute Phantasien bedienen, auch wenn sie einem selbst zuwider sind. Aber davon bin ich zum Glück jetzt frei, und ich will meinen Abscheu vor Michael nicht länger verhehlen müssen. Womöglich wär’s ein Fehler, aber ich konnte nicht anders.«
»Nun, es ist doch niemand zu Schaden gekommen.«
»O doch. Ich habe mir die Möglichkeit verscherzt, in Ostend zu wohnen. Ich fürchte, eine der Wachen auf der Flucht geblendet zu haben, und jetzt gibt’s kein Zurück mehr für mich.«
Der kleinere der beiden lachte. »Aber es hat doch keine Augenzeugen gegeben.«
»Mag sein, dass dich niemand gesehen hat«, antwortete Rhapsody. »Mich aber haben viele gesehen. Sie haben mich durch die halbe Stadt gehetzt.«
»Dann hast du wirklich ein Problem.« Der Verhüllte lehnte sich zurück und folgte mit seinen Blicken dem Rauch, der sich zu den Sternen emporrankte. »Aber du musst ja auch nicht in die Stadt zurückkehren. Oder hast du dort Familie wohnen oder jemand anders, dem du vertrauen könntest?«