Seine Stimme klang so gleichgültig, dass sich Rhapsody wie bei einem Verhör vorkam, wofür sie allerdings keine plausible Erklärung hatte, zumal die beiden bestimmt längst wussten, dass sie völlig harmlos war. Aber die Müdigkeit, die Anstrengungen der Flucht und die Ungewissheit ihrer Lage forderten allmählich ihren Tribut.
Der riesige Firbolg hatte damit angefangen, die Kaninchen zu enthäuten und auszunehmen. Ob ihr etwas von der Mahlzeit angeboten würde, wusste Rhapsody natürlich nicht, aber ihr gruselte bei der Vorstellung, die beiden könnten das Fleisch womöglich roh verzehren. Gleich zu Anfang ihrer Ausbildung zur Sängerin hatte sie eine Ballade über die Geschichte der Firbolg einstudieren müssen, ein schauerliches Lied, durch das ihr Bild von den Riesen geprägt worden war, und Grunthor hatte ihr bislang wenig Anlass gegeben, dieses Bild zu korrigieren.
Die Art und Weise, wie sich die beiden Männer zueinander verhielten, ließ darauf schließen, dass sie schon seit langem zusammen reisten. Routiniert und wie selbstverständlich teilten sie sich ihre Aufgaben. Der schlanke Mann hatte die Kaninchen gejagt; der Riese zog ihnen das Fell über die Ohren. Der eine hatte Brennholz gesammelt für das Feuer, das der andere hütete. Alle Vorbereitungen für das Essen wurden erledigt, ohne dass auch nur ein einziges Wort fallen musste. Derweil schien sie, Rhapsody, für die beiden gar nicht anwesend zu sein. Nur einmal nickte ihr Grunthor zu und winkte mit einem Spieß voll brutzelnder Fleischstücke, doch sie schüttelte den Kopf.
»Nein, danke.«
Ihr genügte ein kleines Stück von dem Brot, das Pilam ihr gegeben hatte; den Rest steckte sie nicht in den Rucksack, sondern in die Tasche ihres Umhangs. Die Gesellschaft der beiden wurde ihr von Minute zu Minute unbehaglicher, und sie wollte, wenn nötig, von jetzt auf gleich aufspringen und davonlaufen können.
Der schlanke Mann hatte gerade zu essen aufgehört, als Rhapsody einen Blick von seinem Gesicht erhaschte. Sie wollte nicht neugierig erscheinen, war aber auf das, was sie sah, so unvorbereitet, dass sie ihre Verwunderung nicht verhehlen konnte.
Das Gesicht trug erkennbar menschliche Züge, war aber voll von tiefen Narben und Wülsten und mit einem fein verästelten Netz von deutlich sichtbaren Adern überzogen. Rhapsody hatte schon viele Gesichter von Kranken gesehen, Gesichter, die entstellt waren vom Alter, von Kriegsverletzungen und anderen Geißeln, doch dieses Gesicht sah aus, als wäre das gesamte Heer der Reiter des Schicksals mit scharfen, stampfenden Hufen darüber hinweggeritten.
Erschreckend waren nicht zuletzt auch die Augen. Sie schienen aus zwei verschiedenen Köpfen herausgepflückt zu sein und passten weder der Größe noch der Farbe oder Form nach zueinander. Außerdem standen sie ein wenig über Kreuz, sodass es den Anschein hatte, als plierte er über die Schneide einer langen Klinge hinweg. Erst jetzt gewahrte Rhapsody, dass er ihren starren Blick erwiderte.
Schnell hatte sie sich wieder gefangen und fragte wie beiläufig, wenngleich merklich überhastet: »Und was ist euer nächstes Ziel?«
»Runter von der Insel.«
Sie schmunzelte. »Kann es sein, dass auch ihr eine wichtige Persönlichkeit gegen euch aufgebracht habt?«
Eine Wolke schob sich vor den Mond. Rhapsody glaubte, eine innere Stimme zu vernehmen, die ihr zur Wachsamkeit riet.
Immer wieder schaute sie über die Flammen hinweg zu dem schlanken Mann, beobachtete ihn beim Kauen und sah den Feuerschein in seinen Augen aufblitzen. Sie stellte sich vor, dass er an ihren Antworten kaute statt auf Kaninchenfleisch, von dem sie jetzt doch gern etwas abbekommen hätte.
Eine Henkersmahlzeit steht schließlich jedem zu, dachte sie reumütig.
Über das Prasseln des Feuers hinweg und durch das Schweigen der Männer hindurch hörte sie in ihrem tiefsten Innern, an den Wurzeln ihrer Bestimmung als Sängerin, jenen ihr ureigenen Nennton erklingen, der ihr Prüfstein für die Wahrheit war, und der sagte ihr, dass sie in eine Falle geraten und einer Täuschung erlegen war. Dann sah sie die dünnen Hände und das verunstaltete Gesicht durch die Flammen auf sich zukommen, und sie wusste, dass es nun kein Entrinnen mehr gab. Sie zwinkerte mit den Lidern, die nicht nur vor Müdigkeit schwer waren. In der Glut des Feuers schwelte rauchend ein ihr unbekanntes Kraut.
Er war sichtlich verärgert, rührte sie aber nicht an. Vielmehr machte er sich über ihr Gepäck her, das neben ihr am Boden lag, und wühlte darin herum.
»Wer bist du?«, verlangte er zu wissen. Seine Stimme war ein heiseres, trockenes Kratzen, und der Umhang rauchte nach dem Sprung durchs Feuer. Er wartete auf eine Antwort.
»He, Finger weg!« Sie wollte aufspringen, begnügte sich dann aber damit, ihre tranceartige Benommenheit abzuschütteln.
Der Riese erhob sich. »An deiner Stelle war ich jetzt schön brav, Herzchen. Er hat dich was gefragt.«
»Darauf habe ich doch schon geantwortet. Ich bin Rhapsody. Und jetzt nimm deine Hände aus meinen Sachen, sonst geht noch was kaputt.«
»Ich mache nichts kaputt, es sei denn absichtlich. Also, ich frage noch einmaclass="underline" Wer bist du?«
»War ich mir doch sicher, schon beim ersten Mal richtig geantwortet zu haben. Nun denn, versuch ich’s halt noch einmal. Rhapsody. Habe ich etwa vorher einen anderen Namen genannt?« Ihr schwirrte der Kopf. Sie wusste wirklich nicht mehr, was sie sagte. »Was habt ihr da ins Feuer getan?«
»Da kommen gleich deine Haare rein. Woher wusstest du, wer ich bin?« Er packte sie bei ihrem verletzten Arm und drückte so fest zu, dass sich das Blut in ihrer Hand staute. Ihre Muskeln fingen krampfhaft zu zucken an. Mit jedem Herzschlag ging ein scharfer Schmerz an der gequetschten Stelle einher.
Rhapsody rührte sich nicht. Sie konnte einiges aushalten und hatte gelernt, dass es oft lebensnotwendig war, Schmerzen und Angst zu verheimlichen.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Keine Ahnung, wer du bist. Lass mich los.«
»Du hast mich in der Gasse vor den Wachen bei meinem Namen genannt.«
Die Finger waren ihr schon taub geworden, doch Rhapsody blieb ruhig und beherrscht. Meine Herren, Sie kommen gerade zur rechten Zeit, um Bekanntschaft mit meinem Bruder zu machen. Bruder, darf ich vorstellen: Das sind die Büttel der Stadt. Meine Herren, das ist mein Bruder. Achmed, die Schlange. Obwohl ganz benommen, wurde sie verlegen.
»Ich habe dringend Hilfe gebraucht, und du warst zufällig zur Stelle«, antwortete sie. »Es war der erste Name, der mir in den Sinn kam, aber wenn ich’s mir im Nachhinein so recht überlege ... nun ja, es tut mir Leid. Ich wollte nicht aufschneiden.«
»Er meint was anderes«, sagte Grunthor. »Woher weißt du, dass er der Bruder ist?«
»Wessen Bruder?«
Rhapsody fürchtete, ohnmächtig zu werden. Mit jedem Wort, das sie sagte, schien der Schmerz, den er ihr zufügte, noch zuzunehmen. Plötzlich aber lockerte er den Griff ein wenig und warf dem Partner einen Blick durchs Feuer zu.
Ihr wieder zugewandt, sagte er: »Ich hoffe für dich, dass du nicht auch in Wirklichkeit so dumm bist, wie du tust.«
»Ich verstelle mich nicht. Ich weiß wirklich nicht, was die ganze Fragerei soll. Muss mir dein Name irgendwas bedeuten?«
»Nein.«
»Würdest du mich dann bitte loslassen?«
Grunthor kam und hielt sie gestützt, als der Mann mit dem schauderhaften Gesicht ihren Arm freigab und damit fortfuhr, ihr Gepäck zu durchsuchen.
»Du musst wissen«, sagte Grunthor, »der Trupp, vor dem du Reißaus genommen hast, ist völlig harmlos im Vergleich zu dem, was uns im Nacken sitzt. Die Sache ist ernst, Herzchen. Mein Freund will wissen, woher du weißt, dass er der Bruder ist.«
»Verzeihung, aber wenn das sein Name ist, habe ich nie zuvor von ihm gehört. Ich wollte den Wachen nur weismachen, dass ich eure Schwester bin. Und weil ich nicht lügen wollte, habe ich euch gebeten, mich zu adoptieren. Wir haben uns wohl missverstanden. Wie gesagt, ich halte mich immer an die Wahrheit. Also, glaubt mir oder tötet mich, aber zerbrecht bitte nicht meine Instrumente.«