Auf dem Hügel angekommen, legte er eine Pause ein und blickte über sanft geschwungenes Weideland, das von der späten Nachmittagssonne mit goldenem Licht verwöhnt wurde. Das Panorama war eindrucksvoll, und er wusste, dass er hier noch nie gewesen war; an diesen Anblick hätte er sich gewiss erinnert. Üppiges Sommergrün füllte die Luft mit dem würzigen Duft von Leben.
Das bewirtschaftete Land erstreckte sich so weit das Auge reichte. Da und dort standen ein paar Bäume, doch von einem Wald war nichts zu sehen. Von ein, zwei Bächen abgesehen, die die Wiesen durchzogen, gab es keinerlei Hinweis auf größere Wasserläufe, und auch von Meeresluft war nichts zu spüren.
Gwydion hatte keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Das Licht nahm ab, und der Karren war schon fast außer Sicht. Wahrscheinlich steuerte er auf die Ortschaft zu, die hinter der nächsten Talsenke zu erkennen war. Auf dem Weg dorthin lagen mehrere kleine Höfe sowie ein größeres Anwesen. Gwydion nahm sich vor, bei dem ersten Hof anzuklopfen und um ein Nachtquartier zu bitten.
Er zog den goldenen Siegelring vom Finger und steckte ihn in den Beutel. Dann genoss er ein letztes Mal den Ausblick auf die Hügellandschaft und atmete tief durch. Seine Lunge hatte sich inzwischen an die dünne Luft gewöhnt. Sie hatte eine köstliche Süße, in die sich die Düfte der Weiden und Scheunen zu einem wohltuenden Aroma mischten, das ein Glück verhieß, wie er es in seinem kurzen Leben noch nicht erfahren hatte.
Ein Gefühl der Ruhe breitete sich in ihm aus. Was immer ihn hierher verschlagen hatte, kümmerte ihn nicht weiter. Er beschloss, einfach das Beste aus seiner Lage machen. Und so rannte er los, auf den Bauernhof in der Senke zu, wo inzwischen Kerzenlicht in den Fenstern schimmerte.
Als er den Hof erreichte, waren gerade mehrere Knechte dabei, Ackergeräte und Zugtiere in den Stall zu bringen. Mit funkelnder Pracht ging die Sonne unter und tauchte das Haus und die Scheunen ringsum in orange- und rosafarbenes Licht.
Die Knechte lachten und scherzten; am Ende des langen Arbeitstages herrschte eine ausgelassene Stimmung. Gwydion glaubte, den Bauern in der Gruppe ausgemacht zu haben. Er war älter als die anderen, hatte schon silbergraues Haar, aber durchaus noch einen kräftigen, muskulösen Körper. Mit sanfter Stimme, die seiner Vorrangstellung gar nicht so recht zu entsprechen schien, befahl er den anderen, was sie zu tun hatten.
Gwydion näherte sich auf dem Fuhrweg, der am Haus vorbeiführte, und hoffte, dass der Bauer von sich aus auf ihn aufmerksam werden würde. Er blieb kurz stehen, doch die Männer wollten offenbar mit ihrer Arbeit fertig werden und achteten nicht auf ihn.
»Partch!«, ertönte plötzlich eine Frauenstimme. Gwydion drehte sich um und sah unter der Traufe des Hauses eine ältere Frau stehen, womöglich die des Bauern. »Du scheinst zusätzliche Hilfe zu bekommen.« Sie meinte den Bauern und zeigte mit ausgestreckter Hand auf ihn, Gwydion. Der erwiderte ihr Lächeln und dachte bei sich: War ja leichter als erwartet.
Der Bauer reichte einem seiner Männer die Zügel des Pferdes, das er gerade als Letztes in den Stall hatte führen wollen, und wischte sich die Hände am Hemd ab. »He, Sam, hallo«, rief er und bot seine Hand zum Gruß an. »Du suchst nicht zufällig Arbeit?«
»Doch, mein Herr«, antwortete Gwydion. Er langte nach der ausgestreckten Hand und hoffte, die richtige Aussprache getroffen zu haben. Dass es nicht seine Muttersprache war, schien dem Bauern auf Anhieb klar zu sein, denn er bemühte sich nun seinerseits um eine deutliche Aussprache. Er winkte einen Mann zu sich, sagte: »Asa, zeig Sam, wo er schlafen kann«, und an Gwydion gewandt: »Fürs Abendessen bist du zu spät dran, tut mir Leid. Aber im Dorf wird heute Abend gefeiert und getanzt. Meine Jungs werden dich bestimmt mitnehmen, wenn du magst. Dort wird es auch jede Menge zu essen geben.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Er kann doch auch bei uns was kriegen, Partch. Komm, junger Mann, komm mit.« Sie drehte sich um und ging ins Haus.
Gwydion folgte und staunte nicht schlecht über das, was er zu sehen bekam. Die Wände waren aus Ziegeln und teilweise mit Holz verkleidet, die Möbel zwar schlicht, aber solide getischlert. Sie verrieten cymrische Handwerkskunst. Die gedrechselten Teile der Stühle und am Treppengeländer sahen genauso aus wie die Sprossen der Altarschranke in der Basilika von Sepulvarta, der heiligen Stadt seiner Heimat. Auch die Tische hier erinnerten ihn an diejenigen, die er im Großen Saal in Tyrian gesehen hatte.
»Hier, mein Junge«, sagte die Bäuerin und reichte ihm einen mit Resten gefüllten Teller. »Das ist noch übrig. Nimm’s mit raus, in den Schuppen. Der Tanz vor der Ernte wird bei uns ganz groß gefeiert. Gibt es dieses Fest auch bei euch, in dem Land, aus dem du kommst?«
Gwydion nahm den Teller lächelnd entgegen. »Nein, gnädige Frau«, antwortete er respektvoll.
»Nun, du wirst bestimmt deinen Spaß haben. Es ist der letzte Tanz vor der Hochzeitslotterie. Vergnüge dich, so lange du’s noch kannst.« Sie zwinkerte ihm zu und machte sich dann wieder an ihre Arbeit.
»Hochzeitslotterie?«
»Du weißt nicht, was das ist?«
»Nein«, sagte Gwydion und folgte ihr nach draußen, wo sie auf zwei Männer zusteuerte, die sich am Brunnen wuschen.
»Vom Lande bist du offenbar nicht, oder?«
»Nein, gnädige Frau«, antwortete Gwydion. Er dachte an sein Zuhause und musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
»Wie auch immer, du solltest dich jetzt sputen. Die anderen wollen bald los.«
»Danke«, sagte Gwydion und beeilte sich, den Teller zu leeren. Dann folgte er Asa, der ihm den Schuppen zeigte, in dem die Landarbeiter schliefen.
Noch ehe die Räder zum Stillstand gekommen waren, sprang Gwydion vom Wagen. Die Fahrt war holperig, aber nicht unangenehm gewesen. Und er hatte sich auf Anhieb mit den Knechten verstanden, die recht freundlich, ja, sogar gesprächig waren, auch wenn sie ihm gegenüber ein bisschen reserviert zu sein schienen. Ob es an seinem Fremdsein lag oder daran, dass er ein Mischling war, wusste er nicht zu sagen. Fest stand jedenfalls, dass die Knechte ausnahmslos derselben Menschengattung angehörten, wie auch der Bauer, seine Frau und alle anderen, die er bislang hier gesehen hatte. In dieser Hinsicht war die hiesige Gegend ganz anders als der Rest der Welt, in der eindeutig Mischlinge vorherrschten. Das Dorf erstrahlte im Licht der Laternen, die von Bäumen herabhingen oder auf Fässern standen und für eine festliche Stimmung sorgten. Die Dorfgemeinschaft machte nicht gerade einen vermögenden Eindruck, doch ihre Mitglieder sahen durchweg gut genährt aus und waren ordentlich gekleidet. Auffällig war jedoch das völlige Fehlen von jedwedem Luxus. Gwydion musterte die Dekoration, die aus einfachsten Dingen bestand – aus frisch geschnittenen Zweigen immergrüner Bäume und duftenden Blumen, die das große Gebäude schmückten, das den Dörflern offenbar als Bethaus, Festhalle und Schule diente. Lange Tische, beladen mit Backwaren und Feldfrüchten, waren an den Längsseiten der Halle aufgestellt, deren Boden aus festgestampftem Lehm bestand. Als Zierde dienten große Schleifen aus Musselin.