»Ich schlag hier alles kurz und klein, wenn du mir nicht die ganze Wahrheit sagst. Mag sein, dass du wohlmeinende Eltern hattest. Mag sein, dass du eine Hure gewesen bist und dann ein Gelübde abgelegt hast. Mag sein, dass dir ein alter Knacker nachstellt, weil er seinen Spaß mit dir haben will. Sag mir jetzt, wer du wirklich bist und wieso du mich bei meinem Namen zu nennen wusstest.«
»Verratet mir doch erst einmal, wer ihr seid und was ihr mit mir vorhabt.«
Er musterte sie mit stechendem Blick, zeigte auf den Riesen und sagte: »Das ist Grunthor. Unübersehbar.«
»Du kannst mich aber auch ›Dero untertänigst zu gehorchender Autoritär nennen«, fügte der Koloss mit heiterer Miene hinzu. »So jedenfalls heiß ich bei meinen Truppen.«
Der Scherz zeigte die gewünschte Wirkung. Der verhüllte Mann schmunzelte sichtlich entspannt. »Du hast mich Achmed genannt; belassen wir’s dabei. Dieser Name ist so gut wie jeder andere«, entgegnete er. »Wer ich bin und was wir mit dir vorhaben, wirst du noch früh genug erfahren. Du hast meinen Namen ausgesprochen und ihn dann gegen einen anderen eingetauscht. Das würde mich normalerweise nicht weiter stören, aber unsere Jäger können Tote zum Sprechen bringen und werden nichts unversucht lassen, um mehr über uns zu erfahren. Die toten Idioten haben bestimmt gehört, was du gesagt hast. Wie kommt eine Schlampe wie du eigentlich an so teure Instrumente?«
Rhapsody massierte ihre Schulter und spürte, wie der Schmerz allmählich nachließ. »Ich bin keine Schlampe. Wie schon gesagt, ich studiere Musik und darf mich als Sängerin Lirinscher Folklore bezeichnen, also als Enwr, wie es richtig heißt. Ich will aber noch höher hinaus und mich zu einer Benennerin, einer Canwr, ausbilden lassen. Das ist ein Fach, das nur wenige wählen, bringt aber Fähigkeiten mit sich, die sehr nützlich sind. Vor vier Jahren habe ich mit der Lehre angefangen. Während der ersten drei Jahre war Heiles mein Lehrer, ein renommierter Benenner aus Ostend, der aber seit gut einem Jahr spurlos verschwunden ist. Ich musste meine Studien ganz allein fortsetzen. Just heute Morgen habe ich meine Abschlussarbeit vollendet.«
»Und wozu bist du jetzt in der Lage?«
Rhapsody zuckte mit den Schultern und streckte die Hände dem Feuer entgegen. »Zu allen möglichen Dingen. Sänger kennen sich vor allem in der Folklore aus. Die besteht unter anderem aus alten Sagen oder überlieferten Geschichten. Man kann sich allerdings auch auf bestimmte Fachgebiete spezialisieren, zum Beispiel Kräuterkunde oder Astronomie. Mitunter ist es ein ganzer Zyklus von Liedern, der eine wichtige Geschichte erzählt, die sonst verloren ginge.«
Der Mann, der sich neuerlich Achmed nannte, starrte sie an. »Und mitunter versteht sich deinesgleichen wohl auch auf das Wissen um alte Zauberkräfte.«
Rhapsody schluckte nervös. Dem eigenen Verständnis nach war Folklore eher eine Religion als eine Wissenschaft. Sie beschrieb, auf welche Weise die Mitglieder ihres Volkes und Berufsstandes Wissen und Einfluss aus den Lehren des Lebens bezogen. Weil nach dem Glauben der Lirin das Leben und Gott ein und dasselbe waren, galt die Anwendung der Folklore als eine Form von Gebet, als eine Art Kommunion mit dem Unendlichen. Aber dieses Thema war ihr zu ernst, als dass sie es mit Fremden, geschweige denn mit diesen beiden hätte verhackstücken wollen.
Sie blickte auf und sah in die beängstigend funkelnden Augen, durch die sie sich zu einer Antwort gezwungen wähnte.
»Zugegeben, ja, aber das trifft nur auf besonders erfahrene Sänger und Benenner zu. Und die können auch nur deshalb an den Elementarkräften wie Feuer und Wind teilhaben, weil sie sehr genau darüber Bescheid wissen und sozusagen deren Geschichte kennen. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, dass unsereins immer die Wahrheit sagen muss. Lügen verfälschen die überlieferten Geschichten und machen sie unbrauchbar.«
Der verhüllte Mann steckte die mit Sackleinen umwickelte Harfe in den Sack zurück und zog mit festem Ruck die Kordel zu. »Ich frage dich noch einmal, Sängerin: Wozu bist du imstande?«
Rhapsody zögerte. Der Mann, der anderen als der Bruder bekannt war, hob ihr Gepäck vom Boden auf und balancierte es auf einem Finger über dem Feuer. Offenbar wollte er ihr drohen.
»Zu nichts Besonderem, außer dass ich ziemlich viele Balladen und Lieder singen kann. Und ich kenne Kräuter, die eine betäubende Wirkung haben; aber das wird euch wohl kaum beeindrucken, da ihr in dieser Hinsicht anscheinend selbst bestens bewandert seid. Ich kann unruhige Leute zum Schlafen bringen und den Schlaf derer verlängern, die schon schlafen, was vor allem jungen Eltern nützlich sein kann, die allzu quirlige Kinder haben. Ich kann auch Körper- und Herzschmerzen lindern, kleinere Wunden heilen, Todkranke trösten und ihnen das Sterben erleichtern. Manchmal kann ich auch deren Seelen sehen, wenn sie ins Licht emporsteigen. Ich verstehe mich darauf, mir aus ein paar Stichwörtern, die man mir zuruft, eine unterhaltsame Geschichte zurechtzureimen. Ich weiß, was wahr ist, und kann, indem ich die Wahrheit ausspreche, Dinge verändern.«
Rhapsody ließ sich ihr Gepäck reichen, langte hinein und zog eine verwelkte Blume zum Vorschein. Vorsichtig, die trockenen Blütenblätter schonend, legte sie die Blume auf die geöffnete Handfläche und sprach von ihr, als stünde sie in voller Pracht.
Langsam, aber unwiderstehlich sog die Blume neues Leben ein und blühte auf. Grunthor berührte sie mit einer seiner Krallen, und sie federte so elastisch wie ein frisches Gewächs. Als Rhapsody zu sprechen aufhörte, erstarb die Blume wieder.
»Theoretisch könnte ich ein ganzes Feld solcher Blumen verwelken lassen, wenn ich denn ihren Untergang beschwören würde; aber dazu müsste ich den Namen ihres Todes kennen. So erkläre ich mir auch, was uns heute Nachmittag passiert ist. Ich habe zufällig deinen wahren Namen ausgesprochen – wofür ich mich recht herzlich entschuldige, aber ich hab’s wirklich nicht absichtlich getan. Daraufhin habe ich dich umbenannt, sodass du jetzt tatsächlich Achmed die Schlange bist, ja, auch deinem Wesen nach. Tut mir Leid, wenn ich mir zu viel herausgenommen habe. Mir war nicht bewusst, dass ich zu so etwas nun schon in der Lage bin. Du bist also mein erster Erfolgsfall.«
»Das nennt man dann wohl Ironie«, sagte der Mann, den sie Achmed getauft hatte, und verzog das Gesicht. »Fragt sich, an wie viele Männer du schon dieselben Worte gerichtet hast.«
»An einen nur«, antwortete sie ohne eine Spur von Beleidigung in ihrer Stimme. »Auch wenn’s mir langsam lästig wird, wiederhole ich: Ich lüge nicht, jedenfalls nicht wissentlich.«
»Sei nicht naiv. Es gibt niemanden, der nicht hin und wieder lügen würde. Wir werden sehen, ob uns dein amüsanter Trick hilft oder die Zeit, die uns noch bleibt, verkürzt.«
»Willst du mir nicht wenigstens verraten, vor wem ihr davonlauft? Ich habe euch alles über mich erzählt und bin jetzt hier – wer weiß wo – gestrandet, ohne zu wissen, wer ihr seid, wohin ihr wollt und ob ich womöglich vom Regen in die Traufe geraten bin. Mir wäre wohler, ich wüsste, ob ich bei euch bleiben oder nicht doch lieber zu den Stadtwachen zurückkehren soll.«
»Glaubst du etwa, frei wählen zu können?« Achmed kehrte ihr den Rücken zu und beriet sich leise mit Grunthor. Allmählich lichtete sich der betäubende Nebel aus dem Rauch des Feuers und sie dachte an Flucht. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, zu entkommen und einen Ort zu finden, an dem sie überleben konnte. Als sie sich daranmachte, ihre Sachen zusammenzupacken, kam Grunthor auf sie zu. Sie blickte auf und bemerkte, dass der andere Mann verschwunden war.
»Herzchen, du solltest mit uns kommen.«
»Warum? Wohin?«
»In Ostend würdest du dem Tod in die Arme laufen – oder aber mit unserem speziellen Problem Bekanntschaft machen. Und dann wird es dir nich helfen, zu sagen, dass du mit uns nichts zu schaffen hattest. Man wird dich foltern, bis du auspackst, was du weißt, oder den Geist aufgibst, je nachdem.«