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»Ich könnte eine andere Stadt aufsuchen. Versteckmöglichkeiten gibt es mehr als genug. Besten Dank, ich komme ganz gut allein zurecht.«

»Wie du meinst, Herzchen, Hauptsache, du gehst weg von hier.«

»Wo ist der andere hin?«

»Achmed? Ich glaub, er sucht die Umgebung ab, um sicher zu gehn, dass uns Michael nich auf den Fersen ist.«

Rhapsody sperrte vor Schreck die Augen auf. »Michael? Der ist hinter uns her?«

»Schwer zu sagen; möglich ist’s. Als wir die Stadt verlassen ham, hat er vor der Mauer im Nordwesten kampiert. Wo er wahrscheinlich noch ist, es sei denn, er will was von uns. Aber eigentlich ham wir keine Probleme mit ihm.«

Nervös sah sich Rhapsody im Dunkeln um. »Wohin wollt ihr?«

»Du könntest uns bis zum Wald begleiten, wenn’s recht ist.«

»Zum Lirin-Forst? Dem Zauberwald?«

»Ja, so nennt man ihn wohl.«

»Wolltet ihr nicht die Insel verlassen?«

Der Riese rieb sich das massige Kinn. »O ja, so ist es, glaub mir. Aber vorher gehn wir in den Wald.«

»Was habt ihr da zu suchen?«

»Wir sind auf einer Art Pilgerfahrt, Herzchen, und wollen den Großen Baum sehn.«

Rhapsody staunte. »Die Sagia? Ihr geht zur Sagia?«

»Ja, wir wollen dem Großen Baum der Lirin unseren Respekt erweisen.«

Ihr Blick verriet Skepsis. »Ihr wollt ihm doch wohl hoffentlich nichts antun? Das wäre ein schwerer Fehler.«

Grunthor gab sich beleidigt. »Wo denkst du hin?«, sagte er. »Wir wollen vor dem Baum in uns gehn und beten.«

»Ja dann ...«, sagte Rhapsody erleichtert und schulterte ihr Gepäck. »Ich begleite euch. Bis zum Wald.«

»Wie weit schaffst du’s heute noch, was meinst du, Herzchen?«

»So weit wie nötig.«

»Dann bist du besser dran als ich oder mein Freund. Wir wollen uns jetzt ausruhn und unser Nachtquartier aufschlagen. Gönn dir doch auch ein bisschen Schlaf. Wir wecken dich dann rechtzeitig.«

»Sind wir denn hier in Sicherheit? Vor Michael, meine ich natürlich.«

Der Riese zeigte sich amüsiert. »0 ja, vor dem sind wir sicher. Keine Angst.«

»Ich könnte euch bei der Wache ablösen«, bot Rhapsody an. »Ich habe einen Dolch.«

Aus dem dunklen Hintergrund meldete sich Achmeds Stimme. »Gut zu wissen. Dass du uns beschützt, Rhapsody, wird mich sehr viel ruhiger schlafen lassen. Aber verschon doch bitte alle kleineren Tierchen, die uns anzugreifen versuchen, es sei denn, sie lassen sich essen.«

In seiner zwischen den Ausläufern des Hochlandes versteckten stillen, dunklen Obsidian-Grotte schlug der menschliche Wirt des F’dor seine rot geränderten Augen auf.

Die Kette war zerrissen.

Langsam richtete sich Tsoltan auf dem blank polierten Katafalk auf, der ihm als Ruhestatt diente. Er fuhr mit den Händen durch die Dunkelheit und tastete vergeblich nach den losen Enden des metaphysischen Zaumzeugs, mit dem er seine größte Trophäe unter Kontrolle gehalten hatte, wovon aber jetzt nichts mehr übrig geblieben war.

Der Bruder war ihm entwischt.

In dem Maße, da die Wut des Dämonenpriesters anschwoll, wurde die Luft um ihn herum immer dünner und trockener, bis es den Anschein hatte, als drohte sie zu zerbröseln. Tsoltan stand auf und ging mit zügigen Schritten durch lange Flure zur Tiefen Kammer hin.

In seinem Sog sprühten Funken, die Wandbehänge und Altardecken zum Schwelen brachten, so auch die Talare einiger Priester, die das Pech hatten, ihm in die Quere zu kommen. Seine Knechte rangen nach Luft und erzitterten unter dem Eindruck der schwarzen Flammen, die sie als das erkannten, was sie waren, nämlich ein Vorspiel auf das Drama, mit dem der Dämon Rache üben würde.

Wütend stieg er die rot geäderten Marmorstufen zum Hochaltar hinauf, dem Ort der Blutopfer. Der während des Zweiten Zeitalters in den Nordbergen bei Nain abgebaute große Block aus Obsidian war ehedem Grundstein eines Tempels gewesen, der von den vereinten Völkern erbaut worden und dem lebendigen Allgott geweiht gewesen war.

Jetzt thronte dieser Stein auf dem Absatz der mächtigen kegelförmigen Marmortreppe, die hoch in den Turm hinaufragte, wohl bis zur unsichtbaren Spitze. Die Gliederfesseln aus Leder und die metallenen Sammelgefäße zeugten auf groteske Weise vom Wandel der Zeiten. Hier schien der wahre Name des Bruders passend aufbewahrt zu sein. In gewissen Kreisen wurde der Dhrakier, der als Bindeglied zum Volk von Serendair bestimmt war, auch Kind des Blutes genannt.

Aus großen Kohleschalen loderten, als er vorübereilte, fauchend schwarze Flammen auf, die gespenstisch zuckende Schatten auf die fernen Wände warfen.

Vor dem Hochaltar angekommen, zögerte Tsoltan einen Moment lang. Dann streckte er den Arm aus, fuhr mit zitternden Fingern über die in den blanken Steinen eingemeißelten Symbole des Hasses und ertastete die tiefen Rillen am oberen Rand, die spiralförmig auf den Messingbrunnen in der Mitte zuliefen.

Durch diesen metallenen Mund hatte er die gefangene Mörderseele mit dem Blut ihres eigenen Volkes genährt. Und als es fast keine Dhrakier mehr gab, musste das Blut anderer Unschuldiger herhalten, um die einzigartigen Blutsbande, die der Bruder verkörperte, auch in Gefangenschaft am Leben zu erhalten.

Auf diese Weise hatte Tsoltan den Bruder nicht zuletzt auch in seinen großen Plan einspannen können. Ihn gegen seinen Willen und im Widerspruch zu seinen Treueversprechen auf Dauer zum Diener zu haben wäre ihm, Tsoltan, ein echter Triumph gewesen. Vor der Gefangennahme seines wahren Namens war der Bruder dafür bekannt gewesen, dass er sich als Meuchelmörder seine Aufträge selbst aussuchte. Seine Versklavung hatte diesen Ruf zunichte gemacht. So war er zu Tsoltans schärfster Waffe und zum wichtigsten Vollstrecker des Plans geworden, der kurz vor seiner Erfüllung stand. Die Hände des F’dor hielten nun den Rand des Altartisches umklammert. Er murmelte die Eingangsworte in der toten Sprache der Vorzeit, perverse Parolen der Macht, verknüpft mit der Geburt des Feuers, jenem Element, dem er und seinesgleichen entsprungen waren. Der schwarze Steinaltar glühte rot auf, als hätte sich in seinem Inneren ein Feuer entzündet, das den gläsernen Stein zum Schmelzen brachte. Mit einem scharfen Zischlaut zersprang der Altar in zwei Teile. Tsoltan griff in die Kluft und langte in einen kleinen Hohlraum, den Reliquienschrein, in dem der Name des Bruders steckte. Jener Augenblick, in dem er den Namen zum ersten Mal darin eingeschlossen hatte, war dem F’dor noch lebhaft in Erinnerung; er konnte sich keiner Tat entsinnen, die ihn tiefer befriedigt hätte.

Mit der Usurpation des Namens war eine lange, aufwändige Suche erfolgreich zu Ende gegangen. Nach monatelanger Folter, die mit ungemein einfallsreichen Mitteln vollzogen worden war, hatte der größte Benenner von ganz Serendair dazu gebracht werden können, den gesuchten Namen niederzuschreiben, und zwar als Noten auf einer Schriftrolle aus uralter Seide. Tsoltan hatte dem Gefolterten die Schriftrolle höchstpersönlich aus der erstarrten Hand gezogen und sie liebevoll mit einer wirbelnden Sphäre umgeben, die, aus Feuerlicht geboren, als Schutzkraft diente und durch die Erdumdrehung an Ort und Stelle gehalten wurde. Es war ein so zauberhaftes Gebilde, viel zu schön, um es im Altar wegzuschließen – eine Notwendigkeit, die ihn so sehr betrübte, wie ihn die Aneignung glücklich gemacht hatte.

Aber unvergleichlich größer war die Trauer, die er jetzt empfand, da der Schrein keine Strahlenkugel mehr enthielt, keine Schriftrolle, nur noch Fetzen von Seide wie die Überbleibsel einer kleinen Explosion. Hastig sammelte Tsoltan die Reste zusammen und suchte darauf nach Spuren der Noten, doch davon war nichts mehr zu sehen.

Sein Wutgeheul dröhnte durch die Tiefe Kammer und hallte klirrend von den schwarzgläsernen Wänden wider. Tsoltans Diener fürchteten, gerufen zu werden. Wenig später schlug ihre Furcht in schieren Schrecken um. Sie spürten Finsternis über sich hereinbrechen, so kalt und klamm, als legte sich ein Nebelschleier auf ihre Schultern.

Tsoltan rief die Shing zu sich.

4

Rhapsody durchlitt gerade einen schrecklichen Albtraum, als sich eine schwere, ledrige Hand auf ihren Mund legte. Erschrocken riss sie die Augen auf. Ihr Herz, schon durch den Traum zum Rasen gebracht, pochte so laut, dass sie fürchtete, ihr würde die Brust zerspringen. Doch wie der von Grunthors Hand verwehrte Schrei kam auch das Herz nicht frei, sosehr es auch gegen die Rippen trommelte.