»Pssst, Herzchen. Nich bewegen, und sei schön leise. Verstanden?«, flüsterte der Riese. Rhapsody nickte, worauf Grunthor seine Hand zurückzog.
Unter ihrem Rücken spürte sie den Boden erzittern. Angestrengt lauschte sie in den Wind und glaubte in der Ferne das dumpfe Stampfen galoppierender Pferde zu hören. Es war, als preschte ein Heer von Reitern herbei.
Sie drehte sich auf den Bauch und hielt den Kopf geduckt, um nicht aus der Deckung der dichten Gräser hervorzustechen. Das Lagerfeuer war restlos niedergebrannt.
Grunthor kniete neben ihr und versperrte ihr mit seiner massigen Gestalt den Blick zur Seite. Er zog, offenbar vergnügt, eine Waffe nach der anderen zum Vorschein, mal hinter der Schulter, mal aus den Stiefelschäften, und begutachtete, ein Liedchen summend, jede einzelne Klinge im fahlen Licht des Mondes. Plötzlich, überraschend schnell und lautlos, war er verschwunden. Sie richtete sich suchend auf.
»Folgsam bist du ja nicht gerade, Rhapsody«, meldete sich unmittelbar über ihr Achmeds raue, trockene Stimme. Vor Schreck ließ sie sich ins Gras zurücksinken, blickte auf, sah aber nichts als Dunkelheit. »Grunthor hat dir doch gesagt, du sollst dich nicht von der Stelle rühren, um deiner eigenen Sicherheit willen.«
Sie nahm einen leichten Luftzug wahr und sah einen Schatten aus dem Dunkel hervortreten. Achmed ging neben ihr in die Hocke und sagte: »Aber bitte, wenn’s dir gefällt, kannst du dich auch als Zielscheibe anbieten. Deine idiotischen Freunde sind im Anmarsch.«
»Michael?«, hauchte sie mit brüchiger Stimme.
Aus der Kapuze starrten ihr Achmeds ungleiche Augen entgegen. Dann wandte er sich ab und schaute in die Richtung, die Grunthor eingeschlagen hatte. Es war ein feines Summen wie von Insekten zu hören, als sich Achmed ihr wieder zuwandte und heiser flüsterte: »Seine Männer. Er selbst ist nicht dabei.«
»Woher weißt du das?«
Er gab einen leisen Laut von sich, der nach Verärgerung klang. »Na los, warum stehst du nicht auf, winkst mit den Armen und rufst ihn zu dir? Wenn er da ist, wird er sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«
»Ich, äh... Verzeihung«, stammelte sie flüsternd und schluckte den Kloß hinunter, der ihr vor Angst in der Kehle steckte. Sie erwartete eine Entgegnung, doch die blieb aus, und als sie aufblickte, war er nicht mehr zu sehen. »Achmed?«
Eine laue Brise wehte über sie hinweg, blies ihr dürre Grashalme vors Gesicht und spielte mit ein paar losen goldenen Strähnen. Rhapsody machte die Augen zu und hörte das entfernte Getrappel lauter werden; die Reiter näherten sich. Sie wollte die Augen geschlossen halten, blickte dann aber unwillkürlich zum Himmel auf, um nach Sternen zu suchen, doch der volle Mond überstrahlte sie alle und ließ den Himmel umso schwärzer erscheinen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten und zu lauschen.
Karvolt, Michaels Leutnant, zügelte sein Pferd, ließ es in einen langsamen Schritt zurückfallen und mahnte die anderen per Handzeichen, wachsam zu sein. Das Gras stand hoch und wogte sanft im Wind. Sonst war weit und breit nichts zu sehen. Er spürte jedoch, dass sein Wallach zögerlich wurde, was häufig der Fall war, wenn er Gefahr witterte; aber vielleicht war das Tier auch nur müde und erschöpft. Von ihrem Befehlshaber und dessen Wut über die Flucht der Frau angetrieben, hatte die 20-köpfige Truppe ein höllisches Tempo vorgelegt. Jetzt waren die Reiter allesamt zum Stehen gekommen. Karvolt sah sich aufmerksam um und lauschte über die Geräusche hinweg, die von den überhitzten Pferden seiner Männer ausgingen. Der Nachtwind fuhr durch sein dichtes Haar und streichelte ihm über den Nacken, doch statt den Schweiß zu trocknen, wühlte er nur kalte Schauer in ihm auf. Er versuchte sie abzuschütteln. Bis auf das wogende Gras und die im Mondlicht schleichenden Schatten war noch immer nichts zu sehen.
Er griff mit der Hand unter den Kragen des Kettenhemds, um den lästigen Schürfungen, die sich darunter gebildet hatten, ein wenig Linderung zu verschaffen. Sein Blick richtete sich auf die Männer. Manche lehnten müde am Kamm ihres Pferds, andere hatten Wasserschläuche an den Mund gesetzt und tranken gierig. Karvolt tätschelte seinen Wallach, der immer noch merklich zitterte. Und wieder schaute sich der Leutnant im weiten Panorama der Dunkelheit um. Nichts.
»Vorsicht!«, mahnte er leise. Karvolt tat sich schwer mit Worten und sprach nur, wenn es sein musste.
»Mein Pferd hat Angst. Was ist mit euren?«
Wie zur Antwort auf die Frage ertönte aus ihrer Mitte ohrenbetäubendes Gebrüll, ein Kriegsschrei, der zu gleichen Teilen aus Wut und Lust, Triumph und Wildheit gemischt war. Mit dem Schrei trat sogleich auch sein Urheber in Erscheinung.
Das Mondlicht beleuchtete nur einen Teil des Ungeheuers, dieser gewaltigen Ansammlung von Klauen, Stoßzähnen und Muskelfleisch, verpackt in einer Rüstung aus Leder, die ihn wie eine zweite Haut umhüllte. Dieses Ungetüm wetzte zwei glänzende Schwerter aneinander, richtete sich zur vollen Größe auf, warf den Kopf in den Nacken und fing auf eine Art zu lachen an, die nicht weniger fürchterlich war als der Schrei zuvor.
Wie von ein und derselben Peitsche geschlagen, bäumten sich alle Pferde auf. Sie warfen die Reiter ab wie lästiges Geschmeiß, stampften kreischend umeinander oder wälzten sich wie von Sinnen am Boden, was den Männern, die unter ihre zuckenden Leiber gerieten, schlecht bekam. Dann suchten die Pferde ihr Heil in der Flucht und stoben in panischer Hast auseinander. Ein Soldat, der das Pech hatte, sich im Steigbügel verfangen zu haben, wurde durch das Gras davon gezerrt. Seine qualvollen Schreie brachen plötzlich ab, noch ehe die Pferde verschwunden waren.
»Das wäre dann wohl ein einmütiges Ja auf meine Frage von vorhin«, sagte Karvolt, der sich vom Boden aufgerichtet hatte und keuchend in die Runde blickte.
Was nun auf ihn zukam, sah aus wie ein in Bewegung geratenes Stück Nacht. Als es näher rückte, erkannte er, dass es sich um einen Mann handelte, eingehüllt in einen Umhang mit großer, verschleierter Kapuze; wie ein ominöser Windhauch strich er näher kommend über das Feld. Karvolt wich zurück, stolperte dabei über den zerschmetterten Körper eines seiner Männer und langte mit zitternder, verschwitzter Hand nach dem Schwert.
Er warf einen Blick über die Schulter zurück, sah einen Sattel unter Satteltaschen am Boden liegen, leider aber ein paar Schritte zu weit entfernt, um auf die Schnelle dahinter in Deckung gehen zu können. Zur Linken hörte er eine Klinge niedersausen, die ekligen Geräusche fallender Köpfe und Leiber und das laute Lachen des Riesen, der die Klinge führte.
Sosehr er auch am ganzen Körper zitterte, versuchte Karvolt Haltung zu bewahren. Seine Männer aber hatten den Kampf um Selbstbeherrschung verloren und nahmen Reißaus, was sie indes nicht davor bewahrte, von dem unablässig kichernden Koloss enthauptet oder abgestochen zu werden. In seinen finstersten Albträumen und blutigsten Schlachten an der Seite Michaels hatte er nichts dergleichen erlebt. Er suchte festen Stand, straffte die Schultern und hob das Schwert.
Wer von den Soldaten noch dazu in der Lage war, versuchte daraufhin seinem Beispiel zu folgen und die lähmende Angst zu überwinden. Ohne die Schattengestalt aus den Augen zu lassen, deren Umhang im Wind flatterte, wich Karvolt langsam weiter zurück.
Der Mann kam leichtfüßig näher, hielt kurz vor jedem gefallenen Soldaten an, entwaffnete diesen und parierte lässig letzte, verzweifelte Attacken gegen ihn. Zwar ahnte Karvolt, dass sich seine Männer nach besten Kräften wehrten, doch es schien ihm, als würden sie dem Schattenmann ihre Waffen freiwillig aushändigen. Der bewegte sich dermaßen schnell, dass Karvolt mit den Augen kaum folgen konnte. So blieb es ihm zum Teil erspart, mit ansehen zu müssen, wie seinen Männern, einem nach dem anderen, ein Dolch – scheinbar respektvoll, ja, geradezu freundlich geführt – durch die Kehle fuhr oder durchs Ohr in den Kopf eindrang.