Einem Engelwesen gleich bewegte sich der Mann zwischen den am Boden liegenden Soldaten. Einem bot er seine ausgestreckte Hand wie einem Gefährten, entwand ihm im Handumdrehen das Schwert, um es sogleich zurückzugeben – mit der Spitze voran durch die Achselhöhle in die Brust. Mit fast zärtlicher Gebärde legte er einem anderen den Nacken frei und beförderte ihn so schnell und umstandslos aus dem Leben, dass Karvolt nur staunen konnte. Michael, der sich selbst Wind des Todes nannte, hätte hier erleben können, was diesem Namen in Wahrheit alle Ehre machte. Für Karvolt schien die Zeit stehen zu bleiben, als ihm auf geradezu tröstliche Weise bewusst wurde, dass sein Tod unmittelbar bevorstand. In seinem entrückten Geisteszustand gewahrte er, wie angespannt die Haut rings um die Augen und zwischen den Brauen war. Er ahnte, dass sich sein Gesicht unter dem Eindruck schieren Entsetzens zu einer solchen Fratze verzerrt hatte, wie sie ihm schon etliche Male in Gestalt seiner Opfer zu Gesicht gekommen war. Und doch empfand er nicht die Angst, die durch sie zum Ausdruck kam.
Als der Verhüllte auch den letzten seiner Kameraden ins Jenseits befördert hatte und schlussendlich ihm entgegentrat, hatte sich Karvolt im Grunde schon ergeben. Alle Erfahrung aus vielen Jahren mörderischer Schlacht war jetzt, angesichts des Todes, wie weggewischt.
Unter Aufbietung seiner letzten Willenskräfte schwang Karvolt die vom Vater geerbte Triatine, ohne dass er sich Hoffnung darauf machte, dem Gegner widerstehen zu können. Stolpernd stürzte er rücklings zu Boden, und schon war die Schattengestalt über ihm. Karvolt wähnte sich mit Wohlwollen betrachtet, obwohl er die von der Kapuze verhüllten Augen gar nicht sehen konnte. Eine dünne, eisenharte Hand legte sich um das Heft seiner Waffe. Die Stimme, die ihm ins Ohr flüsterte, war sanft und höflich.
»Du erlaubst.«
Als es um ihn herum noch dunkler wurde, spürte Karvolt, wie ihm die schlanke, dreischneidige Klinge der entschwundenen Triatine durch die Brust drang, und er wunderte sich nur noch über das Ausbleiben jeglichen Schmerzes und darüber, wie mühelos und leicht der Schatten den Stahl aus seinem zurücksackenden Körper wieder hinauszog. Von den Rändern des Gesichtsfeldes ausgehend, trübte sich sein Blick. Dann hörte er nur noch Bruchstücke eines kurzen Wortwechsels zwischen seinem Henker und dem Riesen.
»Den hast du ja richtig lange zappeln lassen.«
»Er hat eine interessante Waffe. Ein schönes Sammlerstück für dich.«
Als Grunthor an den Lagerplatz zurückkehrte, fand er Rhapsody genau so vor, wie er sie verlassen hatte: reglos und mit starren Blick nach oben. Er stieß einen von Michaels toten Soldaten zur Seite, der unmittelbar neben ihr zu Fall gekommen war, streckte ihr seine Riesenhand entgegen und half ihr auf die Beine.
»Alles in Ordnung, Herzchen?«, fragte der Bolg und musterte ihr Gesicht, als sie mit ausdrucksloser Miene auf das Schlachtfeld starrte. Rhapsody nickte. Sie zitterte am ganzen Leib und rieb sich, als fröstelte sie, mit den Händen über die Oberarme. Ansonsten aber zeigte sie keine Regung.
»Darauf kannst du dir was einbilden«, sagte Achmed, und seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er grinste. »Die sind offenbar dem Motto gefolgt: Dich sehen und sterben.«
Rhapsody gingen zwischen den Toten umher und blieb schließlich vor Karvolts Leiche stehen. Die beiden Männer sahen, wie sich ihr schlanker Rücken kerzengerade versteifte. Nach einer Weile hockte sie sich nieder und drehte den Leichnam, bei den Schultern gepackt, herum, um das Gesicht besser erkennen zu können. Und dann war ihr förmlich anzusehen, wie sich eine Welle aus Wut und Abscheu in ihr aufbaute.
Sie sprang auf und versetzte dem Kopf des Toten einen deftigen Tritt mit dem Fuß und gleich darauf einen zweiten und dritten, der noch wuchtiger war. Zwischen flachen Atemstößen spukte sie Flüche aus, wie sie obszöner nicht hätten sein können.
Grunthor war sichtlich beeindruckt und grinste übers ganze Gesicht. »Sapperlot! Ich hör wohl nich richtig. Mir scheint, sie kennt den Burschen.«
Achmed schmunzelte. »Wie kommst du darauf? Sieh zu, wie du sie wieder beruhigst. Wir müssen weiter.«
Der Rauch des Frühstücksfeuers hing schwer in der drückenden Morgenluft und mischte sich unauffällig mit dem aufsteigenden Nebel, was Achmed gut zupass kam. Um sich die Beine zu vertreten, war das Mädchen kurze Zeit vorher zu einem Spaziergang aufgebrochen. Obwohl er sie nicht sehen konnte, spürte er doch ihren Herzschlag, der ruhig und gleichmäßig war und ihm die Sicherheit gab, dass sie an Flucht nicht einmal dachte. Er schürte das Feuer und rührte den klumpigen Brei, der in einem Topf darüber garte.
Die Worte, mit denen sie sich verabschiedet hatte, waren die ersten gewesen, die sie nach langem, die ganze Nacht hindurch anhaltendem Schweigen von sich gegeben hatte. Grunthor hatte sich während des nächtlichen Marsches mehrfach nach ihrem Befinden erkundigt, was ihm jedes Mal mit einem höflichen Kopfnicken quittiert worden war. An ihrem starren Blick glaubte der Riese ablesen zu können, dass sie immer noch unter Schock stand, doch Achmed vermutete, dass sie im Geiste alte Pfade beschritt, Pfade, die rauer waren als die steinigen Felder, die vor ihnen lagen. Wie auch immer, ihm war die eine wie die andere Erklärung ziemlich egal.
Allerdings legte er Wert darauf, Rhapsody auch weiterhin in seiner Begleitung zu wissen. Das hatte er schon beim Aufbruch aus Ostend so gesehen, und inzwischen war er sogar überzeugt davon, dass sie ihm noch nützlich sein mochte. Seine Sicherheit sah er nicht durch sie gefährdet, und dass sie Probleme mit dem Luftverschwender hatte, kümmerte ihn nicht weiter. Für ihn zählte nur eins: dass er über sie die Chance wahrte, in Erfahrung zu bringen, was mit seinem Namen geschehen war.
Von dem unsichtbaren Sklavenjoch, das er unter dem Einfluss des F’dor hatte tragen müssen, war er jedenfalls befreit, das spürte er. Es war genau in dem Augenblick von ihm abgefallen, als Rhapsody ihn in jener dunklen Seitengasse von Ostend auf ihre mysteriöse Weise angesprochen hatte. Mehr noch, sie hatte nicht nur seinen Rufnamen geändert, sondern einen ganz anderen Menschen aus ihm gemacht. So viel Macht in der Hand eines Mädchens, das ansonsten einen leicht verrückten Eindruck machte, fand er dann doch sehr gefährlich. Wer den Willen des F’dor zu beugen vermochte, hatte offenbar in der Tat ungeheuere Möglichkeiten. Eine Verrückte mit Macht. Fabelhaft, dachte Achmed schnaubend.
Auf sein Erbe schien sich der Namenswechsel allerdings nicht ausgewirkt zu haben. Nach wie vor hörte er die Herzen von Millionen schlagen, in seinen Träumen und in jedem wachen Augenblick, so wie immer seit seiner Geburt.
Was seine neue Identität im Einzelnen ausmachte, würde sich noch zeigen müssen. Auch darum war es unerlässlich, dass sie bei ihm blieb, wenigstens bis zur Ankunft an ihrem gemeinsamen Bestimmungsort. Er brauchte völlige Klarheit und konnte keine offene Frage dulden. Vor seiner Versklavung war der Bruder nicht nur Herr über sein eigenes Schicksal gewesen, sondern auch über das all derer, die er sich erwählte. Womöglich hatte die Benennerin ihn durch ihr Tun in diesen Stand zurückversetzt – oder auch nicht. Er tappte im Dunkeln. Andere wären glücklich über ihre Rettung gewesen; Achmed war bloß verärgert.
In der Ferne hörte er zarte, helle Töne im auffrischenden Morgenwind erklingen, Töne, die das ewige Pochen in seinem Blut erträglicher machten und Klarheit in seine Gedanken brachten. Das Mädchen hatte zu singen angefangen. Gelbrotes Sonnenlicht durchbrach das dunkle Himmelsblau und ließ den Dunst aus Rauch und Nebel aufleuchten. Er drehte sich um und schaute zu Grunthor, der gerade erwacht war und in die Richtung blickte, die das Mädchen wie in Trance eingeschlagen hatte. Der Riese schüttelte den Kopf, als wollte er den Schlaf abschütteln, und begegnete dem Blick des Gefährten.