»Was ist das?«
Der Mann, der jetzt Achmed, die Schlange hieß, rührte den scharf riechenden Brei kräftig durch.
»Sie hält Andacht.«
»Hä?«
Er klopfte den Löffel am Topfrand ab. »Sie ist eine Liringlas, eine Himmelssängerin, also eine von denen, die den Auf- und Niedergang der Gestirne besingen.«
Der Riese grinste breit. »Wie lieblich. Was du nich alles weißt. Woher?«
Achmed zuckte nur mit den Schultern. Dhrakier und Lirin unterhielten von alters her enge Beziehungen. Den Riesen über Einzelheiten aufzuklären war ihm jetzt nicht wichtig genug. Wenig später war das schöne Lied verklungen, und das wohlige Empfinden, das es mit sich gebracht hatte, ging wieder verloren. Als Rhapsody ins Lager zurückkehrte, hatte sich Achmeds verhüllte Miene wieder verfinstert. Sie aber zeigte sich wie verwandelt, gut gelaunt, fast heiter.
»Guten Morgen«, grüßte sie lächelnd.
Grunthor erwiderte ihr Lächeln. »Morgen, Herzchen. Fühlst du dich besser?«
»Ja, danke. Guten Morgen, Achmed.« Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie neben ihrem Gepäck Platz und öffnete die Lederriemen. »Vielen Dank für ... euren Beistand letzte Nacht.«
Die Sonne zerschnitt den Horizont in ihrem Rücken und überflutete sie mit rosig goldenen Strahlen, die ihre Haare aufleuchten ließen. Sie nahm ein Stück Brot aus der Westentasche und klopfte die Krumen von den langen Ärmeln der weißen Musselinbluse, die von Gras und Erde ganz dreckig geworden war. Mit ausgestreckter Hand bot sie den anderen an, das Brot mit ihr zu teilen, worauf diese aber kopfschüttelnd verzichteten.
»Beeil dich«, sagte Achmed und löffelte Brei in zwei verbeulte Blechnäpfe. »Wir haben heute noch eine weite Strecke zurückzulegen.«
Rhapsody hörte plötzlich zu kauen auf und schluckte, was ihr sichtlich Mühe machte. »Wir? Heute? Was soll das heißen?« Wortlos reichte Achmed dem Riesen einen der beiden Näpfe und fing selbst zu essen an, ohne auf ihre Frage geantwortet zu haben. »Michaels Leute sind doch alle tot, wenn ich mich richtig erinnere.«
Der Dhrakier senkte seinen Napf. »Seid ihr Benenner alle so voreilig in euren Vermutungen? Er hat viele Männer. Der Trupp von gestern war nur eine kleine Abteilung. Glaubst du wirklich, das wäre schon alles, was er aufzubieten hat?« Er ignorierte Grunthors Blick, der ihn von der Seite traf, und löffelte weiter.
Rhapsody wurde ganz blass im Gesicht; ihre Miene aber blieb ruhig und gelassen. »Wie weit ist es bis zum Baum?«
»Nicht ganz zwei Wochen, wenn das Wetter mitspielt und die Strecke frei bleibt.«
Wieder nickte die Sängerin. »Und ihr wollt immer noch, dass ich mit euch komme?«
Achmed holte mit dem Zeigefinger die letzten Breireste aus den Tiefen des Napfes, schleckte sie ab und putzte dann, ehe er ihn zu seinen Sachen steckte, den Napf und das übrige Geschirr mit einem Grasbüschel sauber. Erst als er sein Gepäck geschultert und seine Waffe unter den schwarzen Umhang gesteckt hatte, antwortete er: »Wenn du mit uns Schritt halten kannst und keine dummen Fragen stellt, werde ich darüber nachdenken.«
Sie legten ein brutales Tempo vor, marschierten in langen Streckenabschnitten, mal bei Tage, mal bei Nacht, und gönnten sich kaum eine Rast. Achmed bestimmte, wann und in welcher Richtung es weiterging; Rhapsody hatte den Eindruck, als folgte er einem inneren Sinn, der ihn vor Gefahren warnte.
Manchmal hielten sie sich stundenlang versteckt, um Fremde, die des Wegs kamen, passieren zu lassen. Solche Pausen nutzte sie zum Schlafen, wusste sie doch nie, wann sich die nächste Gelegenheit dazu bieten würde. Wenn es Achmed für richtig erachtete, marschierten sie auch manchmal einen ganzen Tag lang durch. Die Männer waren ein schnelles Tempo gewohnt. Anfangs tat sich Rhapsody noch etwas schwer, aber nach einer Woche war sie gut in Schwung und ebenso flink auf den Beinen.
Schließlich, gegen Mittag des zwölften Tages, zeigte Achmed nach Süden und blieb stehen. Mit dem Riesen tauschte er ein paar getuschelte Worte in einer Sprache, die Rhapsody außer zwischen den beiden nirgends sonst je gehört hatte.
Grunthor wandte sich ihr zu und fragte: »Na, Herzchen, wie sieht’s aus? Schaffst du jetzt auch noch ein Dauerlaufchen über zehn Meilen?«
»Einen Dauerlauf? Es wird Zeit, endlich mal wieder eine Rast einzulegen. Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.«
»Das hab ich befürchtet. Sei’s drum, na, komm.« Er ging in die Hocke und klopfte sich auf die Schulter. Rhapsody starrte ihn verwundert an; sie war vor Erschöpfung ganz verwirrt und brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass er sie auf den Schultern tragen wollte, was ihr überhaupt nicht gefiel. Allein der Anblick der vielen Hefte und Klingen, die, in verschiedenen Schlingen und Scheiden steckend, seinen Rücken kreuzten, ließ sie erschauern.
»Nein, tut mir Leid, das kann ich nicht.«
Nun wandte sich auch der Verhüllte ihr zu. Er war merklich verärgert und sagte: »Wir sind fast am Ziel. Du hast die Wahclass="underline" Sollen wir dich hier zurücklassen, oder willst du Grunthors Angebot nicht doch lieber annehmen? Die Wälder sind schon zu sehen – nicht aber diejenigen, die sie verteidigen. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Diese Burschen gehen kein Risiko ein und fackeln nicht lange, wenn Fremde an ihren Außenposten vorbeikommen.«
Rhapsody blickte sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, und sah auch keinen Wald. Während des so überaus anstrengenden Marsches hatte sie schon mehrmals in Erwägung gezogen, zurückzubleiben und die beiden ziehen zu lassen, in der Hoffnung, mit ein wenig Glück auf angenehmere Weggefährten zu treffen. Aber wie schon zuvor musste sie sich auch jetzt eingestehen, dass sie den beiden ihr Leben verdankte und sich in ihrer Gesellschaft zumindest sicher fühlen konnte. Also schluckte sie ihr Unbehagen hinunter und stimmte zu. »Na gut, aber zuerst versuche ich’s auf eigenen Beinen.«
»Wie du meinst, Herzchen. Wenn du müde bist, sag mir Bescheid.«
Sie verdrehte die Augen. »Müde bin ich schon seit Tagen. Ich melde mich, wenn ich nicht mehr weiter kann.«
»Einverstanden«, sagte der Riese.
Der Mond nahm ab. Von einem Hof aus blutrotem Dunst umgeben, schwebte er über den Horizont wie ein stummer Zeuge der vom F’dor gestellten Szene.
Der hatte aus der Tiefe des dunklen Tempels einen Ruf ertönen lassen, der durch den massigen steinernen Turm gedrungen war und nun schwarz am nächtlichen Himmel stand.
Der hoch aufragende Obelisk war ein architektonisches Wunder, ein Meisterwerk der Zusammenarbeit von Mensch und Natur. Tausende von Tonnen aus Basalt und Obsidian schwangen sich auf in die Dunkelheit über der gut versteckten Höhle in den Kammlagen des verbotenen Gebirges im Norden von Serendair. Als Turm der Mammutfestung, der tief unter der Oberfläche sein Fundament hatte, durchstach der schwarze Monolith die vom Wind zerrissene Wolkendecke, reckte sich mit geradezu hochmütigem Stolz in den Himmel und lief in einer Spitze aus, in die das Abbild eines einzelnen Auges eingraviert war. Kaum hatte der F’dor seinen Gesang angestimmt, lösten sich die in der feuchten Luft rings um die Turmspitze hängenden Nebelschleier auf. Das Auge machte sich bereit. Die uralte Beschwörungsformel, vor dem Altar des Blutopfers intoniert, war einer längst ausgestorbenen Sprache entlehnt; sie stammte aus der fernsten Vorzeit, in der die Elemente des Universums geboren worden waren. In ihr kam die ursprünglichste aller Verbindungen zum Ausdruck: die Verwandtschaft zwischen dem Element des Feuers und der aus ihm hervorgegangenen Rasse der F’dor.
Die wenigen noch lebenden F’dor – jene gespenstischen Wesen von habgieriger, neidischer Natur – trachteten danach, die Welt in Schutt und Asche zu legen. Wie das Feuer, dem sie entstammten, hatten die F’dor keinen festen Körper und zehrten wie Flammen von Brennstoff – von einem Wirt, der unweigerlich zugrunde ging.
Der Dämonengeist, der sich Tsoltans, des Hohepriesters der Göttin der Leere, bemächtigt hatte, war langsam und geduldig zur Macht aufgestiegen. Im feurigen Bauch der Erde geboren, hatte er diesen Aufstieg von langer Hand und Schritt für Schritt geplant und mit viel Bedacht seine jeweiligen Wirte ausgewählt, von denen er nach Lust und Verlangen schmarotzte.