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Die ersten Wirte waren noch schwach und einfältig gewesen. Nach und nach wechselte er auf mächtigere Stützen über, gab sich aber auch ihnen nicht zu erkennen. Die Inbesitznahme von Tsoltan war ein ausgesprochener Glücksfall gewesen. Der hatte zu diesem Zeitpunkt sein Priesteramt gerade erst angetreten und verlieh ihm doppelte Kraft, zumal er selbst ein zweigeteiltes Leben führte, nämlich zum einen als Mensch unter Menschen, zum anderen als Dämon im Schattenreich des schwarzen Feuers.

Doch nichts davon gab ihm die Macht über den Bruder zurück.

Vom Sockel des Turms stieg Nebel in die sommerlich schwüle Luft des Nachthimmels auf. Heißer Dampf wallte und tanzte im heller werdenden Mondlicht und nahm allmählich menschliche Gestalt an. Zuerst war es nur eine, aber zu ihr gesellten sich immer mehr, bis schließlich eine Vielzahl schimmernder Gestalten das starrende Auge in der Spitze des Obelisken umringte. Sie waren alle wie der Bruder gekleidet, doch an Stelle von Gesichtern zeigte sich nur Schwärze im Ausschnitt der Kapuzen. Die Gewänder aus Nebel schienen an dürren Gerippen zu hängen, die aber, je länger der Gesang andauerte, scheinbar Fleisch ansetzten, sehnige Muskeln und flammende Klauen ausbildeten – Zeichen der dämonischen Kraft, die sie gebar: die tausend Augen der F’dor, der Shing. Tief unten in der riesigen Grotte sah Tsoltan dem Schauspiel durch das Obeliskenauge zu und bebte vor Anstrengung und Freude. Die Gestalten schwebten reglos in der Luft und sogen die Hitze auf, die er ihnen auf eigene Kosten an Kraft zuteil werden ließ.

In den leeren Kapuzen war hin und wieder ein Glimmern zu sehen, Widerspiegelungen des Mondlichts vielleicht, wohl eher aber Reflexionen der Linse des riesigen Auges, das sie nun bildeten. Wie ihr Meister ein Pendler zwischen zwei Welten, waren die Shing soeben aus dem Reich der Geister auf die Ebene der Fleisch gewordenen Menschen hinübergewechselt – und warteten. Sie waren flüchtig wie der Wind, aber nicht so unstet: Einmal auf ein Opfer angesetzt, verfolgten sie es so unnachgiebig wie die Zeit und unerbittlich wie der Tod.

Tsoltan klammerte sich am Rand des Altars fest. Seine Kräfte nahmen ab wie der Mond über den Feldern. Gleich würden sich seine tausend Augen auf den Weg machen und alle Winkel der Welt absuchen, bis sie ihre Beute endlich gefunden hätten. Und dann würde Entsetzliches zu erwarten sein. Der Dämonenpriester konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, sosehr hatten ihn die Shing geschwächt. Tsoltan fragte sich, ob denn der Bruder seinen Opfermut überhaupt zu würdigen vermochte. Er knickte in den Knien ein, prallte mit dem Kopf auf den Boden, schlug sich die Brauen auf und befleckte das schwarze Gestein mit seinem Blut.

»Der Bruder«, flüsterte er winselnd. »Findet ihn!«

Tsoltan, der Hohepriester, halb Mensch, halb Dämon, wälzte sich auf den Rücken und starrte in die Finsternis nach oben, wo in schwindelnder Höhe und unter dem Blick des einzelnen Auges tausend Shing mit dem Wind davonschwirrten.

5

Aus Gründen der Sicherheit verzichteten sie meist auf ein Lagerfeuer. Wenn denn mal ausnahmsweise eines brannte, rückte Rhapsody zum Schlafen möglichst nahe heran. Zwar hielt die hochsommerliche Hitze bis tief in die Nacht vor, doch war ihr der Rauch und das knisternde Holz eine tröstliche Erinnerung an ihr Zuhause, das sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte.

In der Nähe des Feuers veränderten sich die Stimmen, die sie im Traum hörte. Sie wiederholten nicht länger die höhnischen Worte Michaels und seiner Bande, sondern riefen glückliche Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten in die Gegenwart zurück, wenn auch nur für kurze Augenblicke. Dann schwand alle Furcht, und ihr wurde wohl ums Herz.

»Mama, erzähl mir von dem großen Wald.«

»Aber zuerst steigst du in den Waschzuber. Komm, halt dich an meiner Hand fest.« Seifenblasen schimmerten im Schein des Feuers, zogen schwebend bunte Schlieren und zerplatzten vor dem lächelnden Gesicht der Mutter.

Das Wasser war so warm wie die vom Herd geheizte Luft. »Was hast du mir diesmal ins Bad gegeben?«

»Setz dich ganz rein. Lavendel, Zitronenmelisse, Hagebutte, Schneefarn...«

»Schneefarn? Kann man den auch essen?«

»Natürlich. Was glaubst du, warum das Wasser wohl so heiß ist? Ich bade dich nicht, ich bereite eine leckere Suppe vor.«

»Ach Mama, zieh mich nicht auf. Erzähl mir doch bitte von dem Wald. Sind die Lirin, die darin leben, so wie wir?«

Die Mutter hockte sich auf die Fersen, verschränkte die bloßen Arme und lehnte sich rücklings an den Zuberrand. Ihre Miene wirkte heiter entspannt, doch um die Augen lag ein Schatten, wie immer, wenn sie mit den Gedanken in die Vergangenheit zurückkehrte.

»Im Großen und Ganzen, ja. Sie sehen uns ähnlich, ähnlicher jedenfalls als die Menschen. Allerdings haben sie eine etwas andere Hautfarbe.«

»Inwiefern?«

»Sie ist abgestimmt auf ihre Umgebung, den Wald, während unsere Hautfarbe besser zu unserem Himmel passt und den Feldern, die wir, die Liringlas, bestellen.« Mit sanftem Nachdruck löste sie der Tochter die Schleife aus dem Haar. »Wenn du im Wald leben würdest, wären zum Beispiel deine schönen goldenen Haare wahrscheinlich braun oder rostrot, so auch deine grünen Augen. Deine Haut wäre dunkler, weniger rosig. Kurzum, du würdest zwischen all den Sträuchern und Bäumen weniger schnell auffallen.« Ein Schwall warmen Wassers ergoss sich über den Kopf des Mädchens.

»Mama!«

»Entschuldige, aber was zappelst du auch so?«

»Gibt’s unter den Wald-Lirin auch kleine Mädchen?«

»Natürlich. Und kleine Jungs. Frauen und Männer, Häuser und Städte, die allerdings etwas anders sind als unsere.«

»Ob ich die wohl eines Tages zu sehen bekomme? Werde ich ein Blütejahr haben und wie du damals in den Wald gehen dürfen?«

Sie fühlte ein sanftes Streicheln über die Wange, und die Mutter blickte noch ein bisschen trauriger drein. »Wir werden sehen. Wir leben unter Menschen, Kind; hier ist unser Zuhause. Deinem Vater würde es nicht gefallen, wenn du den Gebräuchen meiner Familie folgtest und uns für so lange Zeit verließest. Und wer könnte ihm das nicht nachempfinden? Denn was sollten wir nur anfangen ohne unser Mädchen?«

»Unter den Lirin wäre ich doch sicher, oder? Sie würden mich doch nicht etwa dafür hassen, dass ich halb Mensch bin?«

Die Mutter schaute weg. »Niemand wird dich hassen. Niemand.« Sie breitete das große Badetuch aus.

»Komm, steh jetzt auf. Und Vorsicht beim Aussteigen.« Ein kühler Luftzug, das grobe Tuch auf nasser Haut. Dann das warme, weiche Nachthemd, das sie umhüllte, und die Arme der Mutter. »Setz dich auf meinen Schoß, ich will dir die Haare kämen.«

»Erzähl mir vom Wald, bitte.«

Ein tiefer, melodischer Seufzer. »Er ist weiter als das Auge reicht, unvorstellbar groß, voll von Düften und Geräuschen des Lebens. Du kannst dir im Traum nicht ausmalen, wie vielfältig allein die Farben der Bäume sind, die dort wachsen. In allen Lebewesen klingt ein Lied, das Lied des Waldes. Die Menschen nennen ihn den Zauberwald, weil ihnen vieles von dem, was darin wächst und lebt, fremd ist. Die Lirin aber kennen den Wald bei seinem wahren Namen: Yliessan, das heißt der heilige Ort. Falls du jemals nicht mehr weiter wissen solltest, wirst du im Wald willkommen sein, denn du bist ja von Lirinscher Abstammung.«

Das Knistern des Feuers, der flackernde Flammenschein auf dem Haar der Mutter. »Erzähl mir von Windershins Bach, vom Teich der Herzenssehnsucht und vom Graufluh. Und von dem Baum, Mutter, erzähl mir von der Sagia.«

»Du kennst die Geschichten doch besser als ich.«

»Bitte...«

Durchs Haar fahrende Finger, die kratzenden Zinken des Kamms. »Na schön, ich erzähl dir von der Sagia, und danach halten wir Andacht.

Der Große Baum wächst im Herzen des Waldes Yliessan, im nördlichen Bogen. Er ist so hoch, dass man die unteren Zweige kaum erkennen kann. Den Wipfel, der bis zum Himmel reicht, sieht nur ein Vogel.