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In den Legenden heißt es, dass er genau an dem Ort steht, wo die Zeit einst ihren Anfang nahm und wo das Licht der Sterne zum ersten Mal auf die Erde traf. Die Sagia ist uralt, sie bezieht ihre Kraft aus der Zeit. Man nennt sie bisweilen auch ›Eiche der tiefen Wurzeln‹, denn ihre Wurzeln erstrecken sich bis zu den anderen Orten der Erde, an denen die Zeit ihren Anfang nahm.

Es heißt, dass die Stammwurzel die Erdachse bildet und dass sich die kleineren Wurzeln über das gesamte Inselreich ausgebreitet haben und alles, was auf ihr wächst, zusammenhalten. Zumindest trifft das auf den großen Wald zu, da bin ich mir ganz sicher. Es ist die Kraft der Sagia, die das Yliessan-Lied hervorbringt und den Wald schützt. Und nun komm, Kind, die Sonne geht schon unter.«

Kühler Abendwind, am Horizont ein Streifen tintenschwarzer Wolken; der blassblaue Himmel, darin der helle Stern, dessen Schein sich über Felder, Täler und das sanft geschwungene Hügelland legt. Dann die klare, liebliche Stimme der Mutter und der noch unbeholfene Versuch, den Klang zu imitieren. Eine einzelne Träne auf der zarten Wange der Mutter.

»Sehr schön, Kind; du lernst schnell. Kennst du den Namen des hellen Sterns?«

»Natürlich, Mama, das ist Seren. Nach ihm ist unser Land benannt.«

Der Mutter herzliche Umarmung. »Das ist auch dein Stern, Kind. Unter ihm hast du das Licht der Welt erblickt. Weißt du noch, was in unserer Sprache ›mein Leitstern‹ heißt?«

»Aria?«

»Richtig, sehr gut. Denk immer daran: Du lebst zwar in der Welt der Menschen und trägst einen Menschennamen, gehörst aber gleichzeitig auch einem stolzen, edlen Volk an, weshalb dein zweiter Name ein Lirin-Name ist. In dir klingt die Musik des Himmels, und du bist wie alle Lirin eines seiner Kinder. Seren steht am Südhimmel über dem Wald Yliessan. Sollte es dir einmal schlecht ergehen, bist du dort willkommen. Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren sein.«

Der Druck einer riesigen, Klauen bewehrten Hand, der scharfe Rauch eines Lagerfeuers. Kühle Morgenluft und eine tiefe Stimme, die den süßen Klang der Erinnerung übertönte.

»Herzchen? Bist du wach?«

Wenn du deinen Leitstern findest, wirst du nie verloren sein..

Rhapsody richtete sich benommen auf und griff in die Luft, als wollte sie die Erinnerung festhalten. Doch der Traum war verflogen. Tief betrübt über den Verlust, stand sie auf und klopfte den Umhang aus, der voller Grasspelzen war.

»Ja. Von mir aus kann’s weitergehen.«

Schon seit einigen Tagen lag der Lirin-Wald in Sichtweite, doch Rhapsody erkannte erst jetzt, worauf sie zuliefen.

Als er zum ersten Mal jenseits der Weiten Marschen am Horizont in Erscheinung getreten war, hatte sie gen Osten zu blicken geglaubt und den dunklen Streifen in der Ferne für die Küstenlinie gehalten. Wie das Meer breitete sich der Wald vor ihnen aus. Darüber flirrte heiße Sommerluft, die ihm eine mystische Aura verlieh. Trotz der vielen Geschichten, die sie von der Mutter her kannte, war sie auf den Anblick des mächtigen Waldes und auf den Zauber, der ihn umwehte, völlig unvorbereitet. Die drei hielten sich gerade im hohen Gras der endlosen Wiesenlandschaft versteckt, als ihr – es war um die Mittagszeit – plötzlich bewusst wurde, was es mit dem dunklen Panorama in der Ferne auf sich hatte. Unvermittelt richtete sie sich auf und starrte wie gebannt in Richtung Wald. Grunthor packte mit seiner Pranke zu und zog sie in den Schutz des Grases zurück.

»Runter mit dir! Was fällt dir ein?«

Wütend riss sie sich von ihm los. »Was fällt dir ein? Da ist doch niemand, der uns gefährlich werden könnte, und ich will den Wald sehen.«

»In Deckung«, flüsterte Achmed mit heiserer Stimme und erstickte Rhapsodys Protest im Keim. Er starrte über die Grasspitzen hinweg in westliche Richtung und hob die offene Hand, den Zeigefinger ausgestreckt. »Sie haben dich gesehen.«

In einiger Entfernung war ein leichtes Wogen im Wind auszumachen, sonst nichts. Nach einer Weile blickte Rhapsody zur Seite und sah, dass Achmed immer noch reglos auf der Stelle kauerte und mit geschlossenen Augen angestrengt in die Luft lauschte. Wieder schaute sie nach Westen, wo das Gras wogte, ansonsten aber nichts zu erkennen war, was sie hätte aufmerken lassen.

Doch dann, den Blick ein Stück weiter in südwestliche Richtung gelenkt, glaubte sie ihren Augen kaum zu trauen, als sie hinter dichtem Buschwerk gar nicht weit entfernt ein Gesicht auftauchen sah, das farblich von der Umgebung fast nicht zu unterscheiden war. Das braun-goldene Haar ging wellig und nahezu unmerklich ins hohe Gras über. Von fast gleicher Farbe war das schmale Gesicht, bei dessen Anblick Rhapsody wehmütige Erinnerungen überfielen und ihr die Kehle zuschnürten.

Die großen, mandelförmigen Augen, die hohen Jochknochen, die schimmernde, fast durchscheinende Haut, die schlanke, von Sträuchern halb verdeckte Gestalt, die langen, muskulösen Gliedmaßen – typisch Lirin. Allerdings war das Gesicht, das sie sah, deutlich dunkler als das ihrer Mutter oder der Liringlas, die ihr in der Gegend westlich von Ostend über den Weg gelaufen waren. Vielleicht gehörte dieses Wesen dem Volk der so genannten Lirinved an, einer nomadischen Zwischen-Art, die sowohl im Wald als auch auf den Feldern zu Hause war und sich nirgends auf Dauer niederlassen mochte. Nicht weit hinter der Vorhut entdeckte sie nun viele andere, die sich im hohen Gras nach Westen hinbargen. Eine Wolke rückte vor die Sonne und warf einen Schatten auf das Feld, und in dem kurzen Moment plötzlicher Dunkelheit sah sie das Funkeln einiger Dutzend Augenpaare.

Rhapsody konnte ihren Blick nicht abwenden, nahm aber am Rand des Gesichtsfeldes ein Aufblitzen von Metall wahr. Achmed hatte seine Cwellan gezogen, so lautlos, wie die Wolke sich vor die Sonne geschoben hatte. Kampfbereit hielt er die Waffe mit beiden Händen gepackt.

Grunthor hatte von ihr abgelassen und die Hand zurückgezogen, wohl, wie sie fürchtete, um seinerseits zur Waffe zu greifen. Dass ihre Wangen glühten, registrierte sie als Anzeichen aufkommender Panik, die ihr sonst nicht aufgefallen wäre, weil sie fieberhaft darüber nachdachte, wie die drohende Katastrophe abgewendet werden konnte.

Der verhüllte Mann hielt sich zurück, was sie hoffen ließ. Vielleicht hatte er ja gar nicht die Absicht zu kämpfen. Dass sich Achmed und der Firbolg, obwohl zahlenmäßig klar unterlegen, im Falle einer Konfrontation würden behaupten können, stand für Rhapsody außer Zweifel, zumal sie sich mit Entsetzen an das Blutbad erinnerte, das die beiden unter Michaels Männern angerichtet hatte. Allerdings befanden sie sich hier auf lirinschem Terrain, und ob oder wie die anderen dies zu nutzen wussten, war noch nicht abzusehen.

Offen war auch für sie die Frage, auf welche Seite sie sich schlagen sollte, wenn es hart auf hart käme. Obwohl die beiden Reisegefährten ihr das Leben gerettet und ihr nichts zuleide getan hatten, traute sie ihnen nicht recht über den Weg. Der Gedanke an das Gemetzel unter Michaels Soldaten erfüllte sie nach wie vor mit Schrecken und Argwohn gegen die beiden.

Zwar empfand sie den Lirin gegenüber eine tiefe Seelenverwandtschaft, doch war zu fürchten, dass sie in deren Augen womöglich einen Feind darstellte. Die Wälder sind schon zu sehen, hatte Achmed gesagt, nicht aber diejenigen, die sie verteidigen. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Diese Burschen gehen kein Risiko ein und fackeln nicht lange, wenn Fremde an ihren Außenposten vorbeikommen. Wie dem auch sein mochte, ihr war jedenfalls klar, dass die beiden Gefährten ohne Weiteres auf sie verzichten konnten. Ein leises Klicken im Hintergrund verriet ihr, dass Achmed die Cwellan scharf machte.

Der Wind wehte ihr das dürre Gestrüpp ins Gesicht. Sie machte die Augen zu, um sich vor den winzigen Samenkörnern zu schützen, die, wie sie wusste, jederzeit aus den getrockneten Kapseln herausplatzen mochten. Während ihrer Ausbildung als Benennerin hatte sie das Weidegras, die Futterpflanze der weiten Ebenen dieser Welt, zu botanisieren gelernt. Hymialacia war ihr wahrer Name.