Der wahre Name. Im Licht dieser Antwort verlor Rhapsody plötzlich alle Angst. Sie räusperte die Kehle, die ihr durch Hitze und Furcht ganz ausgetrocknet war, und fing zu flüstern an.
Hymialacia, sagte sie in der musikalischen Sprache ihrer Zunft. Hymialacia, Hymialacia, Hymialacia. Ihre Haut summte in Resonanz der gesungenen Töne, die auf natürliche Weise wechselnde Klangmuster und Rhythmen bildeten.
Achmed, der neben ihr kauerte, streckte seine Hand aus und legte sie ihr auf den Rücken. Die Zaghaftigkeit der Berührung ließ Rhapsody vermuten, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Sie hatte sich nämlich dem Weidegras ringsum so täuschend ähnlich angepasst wie die Lirin; mehr noch – sie war identisch mit dem Gras.
Rhapsody langte hinter sich und tastete nach Achmeds Hand.
Behutsam ließ sie ihre Finger in die behandschuhte Faust gleiten, ohne das geflüsterte Lied des Grases zu unterbrechen, das sich wie ein Refrain immer wieder aufs Neue wiederholte.
Ich bin Hymialacia. Achmed die Schlange ist Hymialacia. Ein ums andere Mal wiederholte sie ihren Namen, ließ auch den Windgesang, die Vorüberziehenden Wolken und den Namen der Stille in den Refrain mit einfließen. Achmeds Händedruck pulsierte wie ein Herz, und sie wusste, dass er sie verstand.
Wenig später flüsterte er Worte in einer ihr unbekannten Sprache, worauf sich Grunthor zu ihr umdrehte und ihr eine Aufgabe abverlangte, die ungleich schwerer war, denn sie kannte seinen wahren Namen nicht.
Nur wenige Schritte entfernt raschelte es im Gras. Die Lirin waren auf breiter Front herangeschlichen und schon fast zur Stelle. Rhapsody schloss die Augen und berührte die Schulter des Riesen.
Bühel, sang sie leise. Es war ein Wort, das sie seit ihrer Kindheit kannte, als sie mit dem Vater ausgedehnte Wanderungen über die offenen Felder und Hügel unternommen hatte. Das Wort war ihr dann wieder zu Anfang ihrer Studien der Kräuterlehre begegnet; es bezeichnete einen kleinen Hügel, einen Erdwulst.
Rhapsody sang das Namenslied unablässig weiter, auch als sie die Augen öffnete und feststellte, dass sich Grunthor in einen Grasbewachsenen Buckel verwandelt hatte, auf dem kleine Baumschösslinge wurzelten. Bühel, Hymialacia. Der Wind. Die Wolken. Hier ist nichts als das Gras der Weide. Durch die Sträucher, die vor ihr wucherten, konnte sie Beine erkennen, die in ledernen Stiefeln und Hosen steckten. Die Lirin waren so nahe, dass Rhapsody ihren Atem zu hören glaubte. Bühel, wisperte sie und kämpfte gegen das Zittern ihrer Stimme an, die zu kippen drohte. Hindernis. Tückischer Grund. Grube. Bühel.
Die näher kommenden Beine verlangsamten ihre Schritte, blieben aber nicht stehen, sondern wichen zur Seite hin aus und umgingen die Stelle, an der sich Achmed aufhielt, wie Rhapsody wusste. Von ihm selbst aber sah sie nichts, nur wogendes Gras, und sie hörte auch nichts außer ihren eigenen Gesang, das Summen von Insekten und das Rascheln unter den Füßen der Lirin. Alles, was sie spürte, war die sengende Hitze der Sonne und der Wind in ihren Haaren. Hymialacia.
Immer und immer wieder sang sie den Refrain, bis die Sonne ein ganzes Stück weiter gewandert war und ihr direkt ins Gesicht strahlte. Rhapsody zwinkerte mit den Augen. Es war Nachmittag geworden, und das Licht der Sonne fiel im stumpfen Winkel auf die goldenen Felder und das gelbbraune Gras. Das Namenlied verklang. Ihr Mund war ausgetrocknet, so verausgabt hatte sie sich, und die Stimme ließ sie im Stich.
Zur Linken teilte sich das Gras. Achmed ließ ihre Hand los und erhob sich.
»Sie sind weg, außer Reichweite«, sagte er.
Rhapsody schaute nach rechts. Vor ihren Augen reckte und streckte sich der kleine Hügel; er wuchs in die Höhe, und die Baumschösslinge verwandelten sich zurück in jene Waffen, die Grunthor in seinem Wehrgehänge auf dem Rücken trug. Was soeben noch ein begraster Erdwulst gewesen war, lächelte ihr nun breit entgegen.
»Also, das war wirklich beeindruckend, Herzchen.«
»Allerdings«, pflichtete ihm Achmed bei. »War das etwa auch ein ›erstes Mal‹ für dich?«
Rhapsody wollte gerade eine Antwort geben, als die Wolkendecke plötzlich zur Seite hin abzudriften schien. Achmeds Hand schnellte nach vorn, packte sie beim Ellbogen und half ihr, auf den Boden zu sinken. Auf dem Rücken liegend, starrte sie unter die Himmelskuppel und sah blaue Kreise darin schwimmen. »Wasser, bitte«, krächzte sie und fiel in Ohnmacht.
Wie grauer Nebel senkte sich der Abend über das Feld. Rhapsody war noch nicht wieder bei Besinnung. Still und reglos lag sie da. So tief hatten ihre Begleiter sie noch nicht schlafen sehen, denn allzu häufig wurde die junge Frau von üblen Albträumen heimgesucht, und dann warf sie sich stöhnend hin und her, gepeinigt von entsetzlichen Nachtmahren, bis sie schließlich zitternd und in Schweiß gebadet aus dem Schlaf aufschreckte. »Kein Wunder, dass sie ihr Gewerbe aufgeben musste«, hatte Grunthor einmal nach einer besonders nervenaufreibenden Nacht gesagt. »Ich schätze, ihre Freier sind auch nich zur Ruhe gekommen.«
Jetzt aber rührte sie sich nicht. Die Sonne verschwand am Rand der Welt und die Wache ging von Achmed auf Grunthor über, der zuvor damit beschäftigt gewesen war, den aus den Satteltaschen von Michaels Soldaten geplünderten Proviant neu zu verpacken.
Der Dhrakier reichte dem Bolg-Sergeanten den Wasserschlauch, nachdem er der Ohnmächtigen ein paar Tropfen daraus eingeflößt hatte, und streckte sich dann aus, um zu schlafen.
Es war schon fast dunkel geworden, als Grunthor auf eine Bewegung in der Ferne aufmerksam wurde. Angestrengt spähte er dorthin, konnte aber nichts erkennen. Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück, doch der Verdacht ließ ihm keine Ruhe. Er richtete sich wieder auf und stieß den schlafenden Dhrakier an, der sofort die Augen aufschlug, sich aber sonst nicht regte.
»Ich glaub, ich hab was gesehn.«
Achmed hob den Kopf und folgte Grunthors Blick. Seine Sehkraft war der des Gefährten überlegen, vor allem unter freiem Himmel, doch er sah nichts. Er lauschte, konnte aber in der Ferne auch kein Herz schlagen hören, was ihm als sicheres Zeichen dafür gelten konnte, dass sie allein auf weiter Flur waren. Er schüttelte den Kopf.
Grunthor zuckte mit den Schultern. Achmed wollte sich gerade wieder hinlegen, als der Bolg plötzlich auffuhr.
»Da ist was, ganz bestimmt, weit weg zwar, aber es ist da.«
Achmed stand auf und stieg auf den Kamm der kleinen Bodenwelle am Rand des Lagerplatzes. Er spähte nach Norden in die Nacht, konnte aber noch immer nichts entdecken. Er wartete.
Wenige Augenblicke später sah auch er: zahllose flackernde Lichter, nur schwer auszumachen im trüben Dunkelgrau. Kaum aufgeleuchtet, waren sie auch schon wieder verloschen. Hunderte, vielleicht tausende von Lichtern, die sich in einer scheinbar endlos langen Reihe über das weite Feld nach Süden bewegten. Ein Suchtrupp?, fragte er sich. Aber wer oder was mochte so wichtig sein, dass so viele Leute danach auf die Suche gingen, nachts, im Licht der Laternen? Achmed schloss die Augen und zog die Kapuze zurück, um die Schwingungen der Herzschläge besser wahrnehmen zu können. Er hob einen ausgestreckten Finger in die Höhe, schmeckte den Windhauch mit geöffnetem Mund, um auch den schwächsten Vibrationen auf die Spur zu kommen. Doch da war nichts in der Luft, kein Herzschlag, kein Rhythmus, kein Geschmack. Nur Stille.
Er schlug wieder die Augen auf, starrte ins Dunkel und sah sie wieder: die vielen tausend Lichter, noch weit entfernt, aber unaufhaltsam in Bewegung, auf das Lager zu. Dann waren sie auch schon wieder verschwunden, abgetaucht in die Dunkelheit der Nacht.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und der Herzschlag, den er nun hörte, war sein eigener.
»Himmel«, hauchte er. Shing.