Hastig wie Krähen in Erwartung eines Sturms rafften sie ihr Gepäck zusammen, hoben die schlafende Sängerin vom Boden auf und flohen auf den großen Lirin-Wald zu.
6
Rhapsody erwachte in völliger Dunkelheit. Der Mond hatte sich davongeschlichen, und der Himmel war voller Wolken. Benommen versuchte sie, den Oberkörper aufzurichten, ließ aber sogleich davon ab, als sich stechende Schmerzen hinter ihren Augen bemerkbar machten. Sie wälzte sich zur Seite, bettete den Kopf in die Hand und rückte den Ellbogen als Stütze zurecht. Ihrer Brust entfuhr ein Ächzen, das mit ihrer eigenen Stimme nichts zu tun zu haben schien.
Sofort war Grunthor mit dem Wasserschlauch zur Stelle. Mit zitternden Händen langte sie danach und trank. Als ihr Durst gestillt war, mühte sie sich auf und schaute in die Runde. Statt des offenen Himmels und der weiten Graslandschaft, in der sie aufzuwachen erwartet hatte, fand sie sich in einem kleinen Hain wieder. Nicht weit entfernt ragten Schatten auf, noch schwärzer als der dunkle Horizont.
»Was ist das?«, flüsterte sie entkräftet.
Achmed blickte auf. »Der Wald«, antwortete er und schmunzelte über ihre Reaktion, die er zwar nicht sah, aber deutlich genug spürte. Das Herz der Sängerin pochte ein ärgerliches Stakkato, und ihr Gesicht fing vor Zorn zu glühen an.
»Ihr habt mich getragen? Den ganzen Weg? Wie konntet ihr es wagen?«
»Dein Protest kommt reichlich spät. Warum hast du dich nich eher zu Wort gemeldet?«, spottete Grunthor, dem das Grinsen angesichts ihrer wütenden Blicke schnell verging. »Was soll’s, Herzchen? Hätten wir dich etwa da draußen liegen lassen sollen?«
Eine schlanke Hand legte sich ihr energisch auf den Mund.
»Halt schön die Luft an, Sängerin«, flüsterte Achmeds raue Stimme. »Und hör mir gut zu, in deinem eigenen Interesse. Noch sind wir allein, aber nicht mehr lange. Wir befinden uns hier in den Büschen am Rand des Waldes. Dieser Grenzbereich ist sehr viel strenger bewacht als die Felder.
Sobald wir den eigentlichen Wald betreten haben, kommt es für uns darauf an, so schnell wie möglich zum Großen Baum zu gelangen. Hinter der ersten größeren Baumlinie im Südosten befindet sich ein Posten, mit vierundzwanzig Wachen besetzt. Und zwar haben wir’s jetzt mit Lirindarc zu tun, mit Wald-Lirin, die noch besser getarnt sind als diese Graslandwesen, welche uns am Nachmittag überrascht haben. Was kannst du tun, damit wir unbemerkt an ihnen vorbeikommen?« Er hob die Hand von ihrem Mund und ignorierte ihren vernichtenden Blick.
»Woher weißt du von diesen Dingen?«, zischte sie. »Du wusstest offenbar auch, dass Michael nicht mit von der Partie war. Die Lirinved – die Zwischen-Wesen, wenn es denn solche waren, die wir gesehen haben – haben mich erkannt. Das war dir von Anfang an klar. Du hast sie von weither kommen sehen. Auch jetzt weißt du genau, wo und wie viele Lirindarc sich dort im Wald verbergen. Wie kommt’s, dass du darüber Bescheid weißt? Und wozu, um alles in der Welt, brauchst du mich?«
Die fremden Augen bedachten sie mit einem kühlen Blick; dann wandte sich Achmed ab und schaute nachdenklich in die Ferne. Er hatte nicht die Absicht, auf ihre Fragen zu antworten. Dass er sich auf die Blutkunde verstand und die Fähigkeit hatte, den Herzschlag x-beliebiger Leute aufzuspüren, wussten nur ein einziger Freund und einige wenige Feinde, obwohl seine Unfehlbarkeit als Meuchelmörder unter den zwielichtigen Elementen der Länder im Osten Legende war. Er suchte nach einer Entgegnung, die zweierlei bewirken sollte: Zum einen wollte er sie beruhigen, zum anderen zur Mithilfe bewegen.
Normalerweise mochte sich eine Geisel noch so sehr empören, es kümmerte ihn nicht. Doch dieser Fall lag anders. Sie verfügte nicht nur über außerordentliche Fähigkeiten und Talente, sondern übte auch eine ungemein beruhigende Wirkung auf ihre Umgebung aus. Die rhythmischen Schwingungen, die von ihr ausgingen, waren seiner Haut sehr angenehm. Vielleicht lag der Grund dafür in ihrer musikalischen Ausbildung. Er holte tief Luft und legte sich seine Worte genau zurecht.
»Wir brauchen deine Hilfe nicht – die Lirindarc aber sehr wohl.«
Sie machte aus ihrer Verblüffung kein Hehl. »Was soll das denn heißen?«
»Falls sie uns angreifen sollten, wärst du die einzige Garantie für ihre Sicherheit.«
Rhapsody kniff die Brauen zusammen. »Ich verstehe wohl nicht richtig.«
Er fixierte sie wieder mit stechendem Blick. »Wir legen es nicht darauf an, diesen Leuten zu schaden. Im Gegenteil, wir haben großen Respekt vor ihnen. Sie, die Lirin und die Lirindarc, leben sehr bewusst und in Einklang mit ihrer Welt. Sie wissen, was kommt, oder zumindest dass etwas kommt. Das unterscheidet sie von den Tölpeln, die außer ihnen dieses Land bewohnen.«
Trotz der Dunkelheit sah Achmed, dass sie bleich wurde. »Was kommt denn? Wovon sprichst du?«
Aus der Kapuze erklang ein hässliches Lachen. »Ist es möglich ... eine Sängerin, die das nicht hört, nicht spürt? Der Lärm von Ostend ist ihr offenbar nicht gut bekommen. Bist du wirklich so naiv oder tust du nur so?«
Ihre grünen Augen nahmen einen harten Ausdruck an. »Du bist mir eine Antwort schuldig. Sag mir, was Sache ist.«
»Das möchte ich von dir wissen, Rhapsody. Die Lirindarc von dem Außenposten im Osten kommen uns entgegen und werden bald zur Stelle sein. Grunthor und ich müssen zum Baum gelangen, und das möglichst schnell. Wir können nicht zulassen, dass sich uns jemand in den Weg stellt, und du weißt sehr wohl, was ich damit andeuten will. Also frage ich dich: Was kannst du tun, um zu verhindern, dass sie in ihr Unglück rennen?«
Ihre trotzige Miene nahm weichere Züge an. »Ich... nichts. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Was erwartet ihr von mir?«
Achmed wandte sich gen Osten und hob die Cwellan an die Schulter. »Von dir darf man offenbar nichts erwarten. Grunthor, spann den Bogen.«
Aus Verwirrung wurde Entsetzen. »Nein, bitte! Lasst das sein, ich flehe euch an!«
Die verhüllte Gestalt drehte sich um und sah sie an, ohne die Waffe zu senken. »Denn frage ich jetzt ein letztes Maclass="underline" Was kannst du tun? Nach dem, was ich heute Nachmittag erlebt habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass du eine gute Antwort darauf parat hast.«
Eine große Hand legte sich auf ihre Schulter. »Komm, Herzchen, denk nach. Dir wird doch wohl was einfallen.«
Rhapsody atmete tief durch und wandte, um wieder klar denken zu können, eine Technik an, die ihr Heiles, ihr erster Mentor, zu Anfang des Studiums beigebracht hatte. Nach einer Weile hörte sie eine innere Stimme, jene Stimme, die ihr die einzigen Geschichten von diesem Wald erzählt hatte, die ihr je zu Ohren gekommen waren.
Mama, erzähl mir von dem großen Wald.
Er ist weiter, als das Auge reicht, unvorstellbar groß, voll von Düften und Geräuschen des Lebens. Du kannst dir im Traum nicht ausmalen, wie vielfältig allein die Farben der Bäume sind, die dort wachsen. In allen Lebewesen klingt ein Lied, das Lied des Waldes. Die Menschen nennen ihn den Zauberwald, weil ihnen vieles von dem, was darin wächst und lebt, fremd ist. Die Lirin aber kennen den Wald bei seinem wahren Namen: Yliessan, das heißt ›der heilige Ort‹.
Achmed sah, wie sich ein völlig anderer Ausdruck auf ihr Gesicht legte. »Und?«
Die Lirin aber kennen den Wald bei seinem wahren Namen: Yliessan, das heißt ›der heilige Ort‹. Rhapsody schaute zu den Sternen auf. »Der Name«, sagte sie leise. »Ich kenne den Namen des Waldes.« Ihr Blick wurde klar, und als sie sich den Männern zuwandte, funkelten ihre Augen beängstigend hell. »Dass wir uns nur ja recht verstehen: Ich sorge mich nur um ihren Schutz, nicht um euren.«
»Das ist nur gerecht«, sagte Grunthor und grinste.
Als die Patrouille der Lirindarc wenig später aufkreuzte, fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf, sie hörte nur den Wind in den Sträuchern säuseln und setzte ihren Weg fort.
Am frühen Morgen hatten sie den Waldrand erreicht. Mit der Dämmerung hatte der Wind aufgefrischt, und Rhapsody löste die schwarze Samtschleife, um die Haare fliegen zu lassen, und ließ die Gedanken schweifen, die noch von schmerzlichen Erinnerungen an den Vortag getrübt waren.