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Sie stand vor dem palisadenartigen Wall der Bäume und spähte ins Unterholz, wo sie üppiges Laub in allen Grünschattierungen und nachtdunkle Schatten ausmachte.

Im Geiste sah sie noch das Bild der Mutter. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie sich die Mutter als junge Frau vorstellte, als Mädchen zu Beginn des Blütejahrs, an der Schwelle des Waldes stehend, da, wo sie jetzt stand.

Zierlich; weder Rhapsody noch ihre Mutter waren besonders groß. Die Mutter hatte ihre goldenen Haare nach traditionellen Mustern geflochten, die nicht nur praktischen Zwecken genügten, sondern sie auch schmückten. Der Lirinschen Tracht entsprachen auch die weite Tunika und die engen Borilla-Hosen, die sie trug, sowie die aus Leder geflochtene Mekva, mit der sie die Taille umgürtete. Die Augen strahlten in stiller Freude. War sie damals glücklich gewesen?, fragte sich Rhapsody. Wenn ja, so hatte dieses Glück nicht lange vorgehalten, wie sie wusste.

Von dieser Zeit hatte die Mutter nur selten erzählt. Die Pilgerreise zur Sagia hatte sie nach alter Sitte gleich zu Beginn des Erwachsenenalters unternommen. Doch wie sie ihre Zeit im Wald verbracht und was sie dort gelernt hatte, war ihr streng gehütetes Geheimnis geblieben. Warum sie Stillschweigen darüber bewahrte, hatte Rhapsody erst im Alter von dreizehn Jahren erfahren.

Als die Mutter nach Vollendung ihres Blütejahres, dem zweiten Jahr ihrer Pilgerreise, auf die heimatlichen Felder zurückgekehrt war, hatte sie ein fast gänzlich zerstörtes Langhaus vorgefunden. Von ihrer Familie lebte keiner mehr. Dass sie selbst auf Reisen gewesen war, hatte ihr das Leben gerettet. Doch das konnte sie nicht trösten, im Gegenteil; als Einzige verschont geblieben zu sein machte ihr trauerndes Herz noch schwerer.

Wäre es ihr möglich gewesen, das Rad der Zeit zurückzudrehen, hätte sie das Langhaus nie verlassen. Lieber wäre sie mit den anderen umgekommen, als auf sich allein gestellt weiterleben zu müssen. Der Verlust und die Erinnerung daran hatten ihr ganzes weiteres Leben geprägt.

Jetzt stand Rhapsody an derselben Stelle, an der einst ihre Mutter gestanden hatte, und sie empfand wohl eine ähnlich ehrfürchtige Scheu und Begeisterung. Das Lirinsche Erbe, das seit der Geburt in ihr schlummerte, erwachte nun und machte sich bemerkbar.

Ostend war der zentrale Durchgangsort für Reisende an der Ostküste. Während ihres Aufenthaltes dort waren ihr zahllose Vertreter fremder Völker aus aller Herren Länder zu Gesicht gekommen, nicht zuletzt viele Halb- und Voll-Lirin. Jetzt, da sie bis nach Yliessan vorgedrungen war, drängte sich ihr die Hoffnung auf, dass sie vielleicht auch vom Volk ihrer Mutter akzeptiert werden und willkommen geheißen würde. Vielleicht fand sie hier die Kraft, endlich nach Hause zurückzukehren.

Die Sonne ging unter, als die drei Reisenden, nachdem sie einen zunehmend dichter bewachsenen Grüngürtel durchquert hatten, den eigentlichen Wald erreichten. Sie warteten, bis es Nacht geworden war, ehe sie weitergingen, ständig auf der Hut vor den Augen, die im Dunkeln funkelten. Unterdessen wurde Rhapsody nicht müde, im Flüsterton das Namenlied des Waldes zu singen, immer und immer wieder: Yliessan, Yliessan, Yliessan. Ihr war es, als teilte sich das Dickicht wie zur Antwort, als trachtete alles Gesträuch danach, den dreien den Weg zu ebnen.

In allen Geräuschen ringsum, im Blättersäuseln und den Lauten der Tiere, vernahm sie einen Gruß.

Yliessan. Der Wald hieß sie willkommen.

Die Luft war voll von bislang ungeahnten Düften. Rhapsody labte sich daran, füllte ihre Lungen und spürte, dass sie weiter wurden und ihr Atem frischer. Sie bedauerte, dass es schon dunkel war, denn allzu gern hätte sie den Wald in seiner ganzen Pracht bei Tageslicht gesehen. Er war zwar nur für die Lirin ein heiliger Ort und nur sie kannten seinen Namen, doch erzählte man sich auch im weit entfernten Ostend Geschichten über den Zauberwald und seinen Großen Baum. Sich und die beiden Männer im Weidegras unsichtbar gemacht zu haben hatte sie erschöpft und ausgelaugt; jetzt aber zog sie zusätzliche Kraft aus der Tarnung, die sie wie ein Teil des Waldes aussehen ließ. Von Anfang an hatte sie ihre Schwingungen den Vorgaben des Waldes angepasst, was ihr das wohlige Gefühl vermittelte, zu Hause zu sein; eine ruhige Heiterkeit überkam sie, die ihre Gedanken läuterte und in sanften Tönen ihr Herz ansprach. Yliessan. Willkommen, Kind des Himmels.

Yliessan.

»Irgendwelche Vorschläge?« Rhapsody fuhr erschrocken zusammen, als sich plötzlich eine raue Stimme zu Wort meldete, die ihr immer noch nicht vertraut war. Achmed, obwohl unmittelbar zuvor nirgends zu sehen, hatte ihr ins Ohr geflüstert.

»Wie bitte?«, flüsterte sie zurück.

»Der Baum – spürst du, wo er sein könnte?« Aus seiner Stimme war deutlich Widerwille herauszuhören.

Sie schloss die Augen, ließ den Nachtwind über ihr Gesicht streifen und lauschte der Musik, die er in Zweigen und Blättern anstimmte, einer Musik, die an fernes Meeresrauschen erinnerte.

Nach einer Weile konzentrierter Aufmerksamkeit hörte Rhapsody einen tiefen Ton, der im Waldboden und in der Luft vibrierte. Er war klar, einzigartig und von zarter Harmonie begleitet, und je länger sie hinhörte, desto deutlicher vernahm sie seine Stimme, die Stimme des Baumes. Daran gab es für sie keinen Zweifel.

Sie zeigte nach Südenwesten. »Dort«, sagte sie.

Achmed nickte. Auch er hatte den Ton wahrgenommen. Leise und vorsichtig schlichen sie durchs dunkle Unterholz. Wie selbstverständlich war ihr die Führung zuerkannt worden, womit sie indes keinerlei Probleme hatte, zumal der Leitton immer lauter wurde. Sie spürte ihn nun schon unter den Füßen.

Der Wald war unermesslich groß. Rhapsody wähnte den Baum noch viele Tagesmärsche weit entfernt. Umso mehr überraschte es sie, sein Lied schon jetzt zu hören, und das so deutlich.

Es dauerte nicht lange, und sie entdeckte im Osten eine finstere, scheinbar undurchdringliche Wand aus immergrünen Bäumen. Aus dieser Richtung tönte auch das Lied, das seinen Ursprung offenbar irgendwo dahinter hatte. Spontan wandte sie sich ihm zu und beschleunigte ihren Schritt. Achmed folgte wortlos; Grunthor aber quittierte den plötzlichen Richtungswechsel mit verärgertem Brummen. Zu dritt näherten sie sich der dichten Baumreihe. Sie alle spürten genau, dass man sie aus mittlerer Entfernung beobachtete, doch selbst sahen sie niemanden. Schließlich erreichten sie den dunklen Wall der Nadelbäume, die so mächtig und hoch aufragten, dass sich die Wipfel ihren Blicken entzogen. Dicht an dicht standen die Bäume beieinander; Grunthor musste den Bauch einziehen, um Durchschlupf zu finden.

Auf der anderen Seite angekommen, blieben sie stehen. Da war kein Laub mehr unter ihren Füßen, sondern unberührtes Gras, ein blassgrüner Teppich, auf dem sich silbrig das Mondlicht spiegelte. Die Grasfläche erstreckte sich bis an den Horizont, den wiederum eine lang gezogene Reihe von Bäumen markierte – knorrige Eichen, die noch mächtiger waren als das Nadelholz im Rücken.

Als Rhapsody auf die ebene Grasfläche trat, fühlte sie eine Hand von hinten an ihrer Weste zupfen.

»Augenblick.«

Achmed und Grunthor standen einander gegenüber und unterhielten sich leise in ihrer Sprache. Rhapsody juckte es buchstäblich in den Füßen. Gelockt vom Baumlied, drängte alles in ihr weiterzugehen. Der Ruf trieb sie zur Eile an und übte eine geradezu magnetische Anziehungskraft aus, der zu widerstehen ihr physische Schmerzen bereitete.

»Ihr wolltet doch möglichst schnell den Baum erreichen«, zischte sie.

Achmed forderte sie mit erhobener Hand zum Schweigen auf und sah sich um. Es war ihm nicht geheuer, die freie, völlig ungeschützte Grasfläche zu überqueren. Doch daran ging kein Weg vorbei. Für den Großen Baum war dieses Feld eine Art trockener Wassergraben, ein zusätzlicher Schutz zwischen den beiden Baumwällen. Achmed schaute hinauf zu den weit ausladenden Ästen, die mit dem Laubwerk ein geschlossenes Dach ausbildeten.