Er zog die Cwellan hinter dem Rücken hervor und nickte. Herzschläge waren außer den eigenen auf weiter Flur nicht wahrzunehmen. Als wollten sie eine verkehrsreiche Straße überqueren, blickten die drei zuerst nach links, dann nach rechts, und setzten sich schließlich mit schnellen Schritten in Bewegung.
Hinter der nächsten Baumreihe trafen sie auf ein tiefes Tal, in der die Luft noch süßer und würziger war. Die Geräusche des Waldes blieben hinter ihnen zurück, und es umfing sie eine nahezu greifbare Stille.
Den Blick nach vorn gerichtet, konnte Rhapsody anfangs nichts erkennen, so hell leuchtete der Mond. Erst als sich ihre Augen an das sprühende Licht gewöhnt hatten, sah sie den Baum vor sich stehen, die heilige weiße Eiche: Sagia, die tief Wurzelnde.
Risse, so tief wie Bäche, zogen sich durch die silbrig weiße Borke, deren Oberfläche ansonsten völlig glatt war, wie poliert. Das Geäst konnte Rhapsody nicht sehen; es verlor sich in nachtdunkler Höhe. Den Boden ringsum bedeckte herabgefallenes Laub, grün, üppig und golden geädert.
Allzu mächtig war der Baum, als dass sie ihn auf einen Blick hätte erfassen können. Allein der Stamm war von solchem Umfang, dass es ihnen, hätten sie sich zu dritt im gleichen Abstand darum postiert, wohl kaum gelungen wäre, sich durch Zuruf miteinander zu verständigen. Er würde mit Leichtigkeit den gesamten Ostender Markt einnehmen, der doch Platz für viele hundert Bürger bot. Rhapsody war von diesen Dimensionen derartig überwältigt, dass sie, als sie wieder in die Gegenwart zurückkehrte, die Gefährten aus den Augen verloren hatte.
Sie hielt Ausschau nach dem Riesen und dessen verhülltem Gefährten, konnte sie aber nirgends erspähen. In ihren Ohren und Fingern spürte sie frühe Anzeichen einer aufkommenden Panik; eingedenk der Tatsache, dass sie sich über die Absichten der beiden ganz und gar nicht im Klaren war, wurden ihre Hände kalt. Doch die friedliche Stille des Tals löste den Krampf in ihrem Magen, und ein tröstendes, sonores Summen erfüllte ihren Sinn. Es war wieder das Lied des Baumes, tief und andauernd, und in seiner schlichten Melodie hörte Rhapsody die Weisheit vergangener Zeitalter mitschwingen. Sie schloss die Augen und lauschte. Einen zauberhafteren Gesang hatte sie nie vernommen.
Der Druck hinter der Stirn und die Verspannung der Nackenmuskeln, die ihr nun schon zwei Wochen lang zu schaffen machten, seit dieser Gammon sie im Federhut aufgesucht hatte, lösten sich unter dem Eindruck des Liedes und verschwanden bald ganz. Ein Gefühl des Friedens breitete sich in ihr aus und berührte verschüttete Teile ihrer Seele.
Wie schon im Traum hörte sie die Stimme der Mutter, die ihr in der Sprache der Lirin alte Geschichten erzählte und Lieder sang zum Lob der Wunder der Natur – Wunder wie der unermesslich große Baum. Mit dem Herzen lauschte sie der magischen Melodie und vergaß darüber die Zeit, bis sie eine Hand auf der Schulter spürte, die sie unsanft in die Wirklichkeit zurückholte.
»Wo bist du gewesen?«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Wir warten. Komm endlich.«
Aufgeschreckt fuhr Rhapsody herum. »Ihr wartet? Worauf? Ich dachte, wir wären hier, um dem Baum unseren Respekt zu erweisen. Davon lasse ich mich jedenfalls nicht abbringen.«
»Komm mit, wir haben die Hauptwurzel entdeckt.«
Rhapsody schüttelte die Hand ab. »Na und?«
»Ich will hier kein Blut vergießen«, sagte Achmed mit unheilvollem Unterton.
Wieder liefen ihr kalte Schauer der Angst über den Rücken, doch gleich darauf wurde ihr heiß vor Wut. »Was soll das heißen? Du drohst mir?«
Achmed hielt einen Gegenstand in die Höhe; der leuchtete so hell, dass sie sich unwillkürlich abwandte, um die Augen zu schonen. Als sie blinzelnd wieder hinsah, erkannte sie einen Schlüssel, der aus Knochen gemacht zu sein schien, aber wie poliertes Gold erstrahlte, das Sonnenlicht in sich gespeichert hatte.
»Willst du sehen, was jetzt passiert, oder dumm zurückbleiben?«
»Nein, ich glaube, ich werde tatsächlich so dumm sein, dich zu begleiten.«
Zähneknirschend folgte sie Achmed um den Stamm des riesigen Baumes herum. Sie starrte nach oben, doch es war ihr immer noch nicht möglich, seine Höhe zu ermessen. Auf der Südseite angelangt, breitete sich ein See vor ihr aus, dessen klarer Spiegel den unteren Rand des Laubdaches eben noch erkennen ließ. Das Lied der Sagia hallte von der Wasseroberfläche wider und schickte silbrige Schauer durch Rhapsodys Seele.
Sie verweilte einen Moment, um die Schönheit des Anblicks auszukosten, und als sie sich wieder besann, war Achmed verschwunden. Eilends lief sie weiter. Es dauerte nicht lange, und sie hatte zu ihm aufgeschlossen. Sie fand ihn, tief gebückt, den Arm nach unten ausgestreckt, wo er den Schlüssel über die gesamte Länge des Bartes in den Sockel des Baumes gesteckt hatte.
»Pass auf!«, sagte er.
Kaum hatte er den Schlüssel mit energischer Handbewegung herumgedreht, da sprühte ein Schauer schillernder Funken aus dem Boden und stob himmelwärts. Von aufglimmenden roten Lichtspuren umgeben, zeigte sich die Öffnung eines kleinen Einstiegs.
Mit weit aufgerissenen Augen schreckte Rhapsody zurück. Sie starrte immer noch vor sich hin, als Grunthor einen großen rechteckigen Ausschnitt aus der Wurzel hochhievte und zur Seite klappte. Vor ihr tat sich eine Dunkelheit auf, die so vollkommen war, dass sie aus dem Loch hervorzuquellen und sich über ihre Füße zu ergießen schien.
»Was macht er da?«, rief sie entsetzt, ehe Achmed dazu kam, ihr den Mund zuzuhalten.
»Pssst. Hör zu, ich werd’s dir sagen. Der Baum steht hier als Zeichen dafür, dass es sich um eine der Stellen handelt, an der die Zeit begonnen hat. Seine Wurzeln führen überall dorthin, wo die Macht der Insel Einfluss nimmt.« Er ließ von ihr ab und drehte sie zu sich herum. »Wir müssen gehen. Wir müssen an einen Ort fliehen, der uns Schutz vor dem Dämon bietet, der uns verfolgt.«
»Dämon?«
»Zugegeben, ihn als Dämon zu bezeichnen ist vielleicht untertrieben. ›Ungeheuer‹ wäre wohl zutreffender. Von ihm haben wir übrigens diesen Schlüssel. Wie auch immer, dem Baum wohnen ungeheure Zauberkräfte inne; er ist fest verwoben mit dem Stoff dieser Welt und bietet uns hier einen magischen Gang. Wir müssen den Wurzeln folgen, wohin sie uns auch führen.«
Rhapsody starrte ihn an. »Dann geht doch.«
»Du sollst uns begleiten«, sagte Achmed und streckte die Hand nach ihr aus.
»Ich kann nicht, will nicht«, entgegnete sie, und ihre Stimme zitterte. »Wie käme ich dazu, euch zu begleiten?«
»Liegt dir denn nicht daran zu erfahren, wie die Zeit in die Welt gekommen ist? Wir bieten dir die Gelegenheit, einen Blick ins Herz des Baumes zu werfen – ins Herz der Welt. Welcher Lirin würde nicht alles dafür geben?«
»Und wenn schon.«
Grunthor blickte vom Einstieg auf, den er freigelegt hatte, und grinste. »Ich will dir was sagen, Herzchen: Wenn du mitkommst, wirst uns davon abhalten können, der Wurzel zu schaden. Lässt du uns aber allein, kann ich für nichts garantieren ...«
Rhapsody schnappte entsetzt nach Luft. »Untersteht euch! Das ist ein heiliger Baum, der Sitz der Weisheit aller Lirin, nicht nur derer, die im Walde wohnen. Ihm Schaden zuzufügen ...«
» ... wäre für uns ein Leichtes, Herzchen.« Rhapsodys Augen wurden noch größer, als sie Grunthor in dem dunklen Loch verschwinden sah. Doch gleich darauf trat Achmed vor sie hin und versperrte ihr die Sicht.
»Willst du nicht wissen, wie es drinnen aussieht?«
Rhapsody wollte durchaus, aber ihre Scheu davor, sich womöglich einer frevlerischen Handlung schuldig zu machen, war größer, und außerdem drehte sich ihr der Magen um bei dem Gedanken daran, dass diese Marodeure das Innere der Sagia betreten würden. Ihr war natürlich klar, dass sie die beiden niemals würde aufhalten können, doch wollte sie nichts unversucht lassen und selbst ihr Leben dafür aufs Spiel setzen.