»Halt!«, rief sie und zog ihren Dolch. »Kommt da sofort wieder raus.«
»Noch hast du die Chance«, drang Achmeds raue Stimme zu ihr. »Wenn du aber lieber zurückbleiben möchtest, wünsche ich dir viel Glück im Umgang mit den Lirindarc-Wachen, die jeden Moment aufkreuzen werden. Wie willst du denen den Schaden erklären? An deiner Stelle würde ich mich schnellstens aus dem Staub machen. Grunthor, du hast doch hoffentlich deine Axt nicht vergessen, oder?« Die in dunkler Tiefe widerhallende Frage sollte ihr natürlich Angst machen und sie zum Mitkommen bewegen.
Rhapsody sah sich um. In der Ferne glaubte sie tatsächlich schon die Geräusche einer näher rückenden Patrouille zu hören. Schlimmer noch, die Sagia hatte ein anderes Lied angestimmt und sang wie unter Schmerzen.
Voller Sorge lief sie auf den Einstieg zu, untersuchte den entstandenen Schaden, fuhr prüfend mit der Hand über die silbrige Borke und spürte unter den Fingergruppen dieselben Schwingungen, die sie vorher in ihrem Herzen empfunden hatte. Plötzlich schnellte eine Hand aus dem Loch, und ehe sie sich versah, ging es mit ihr nach unten.
Sosehr sie auch schrie, es half nichts. Achmed reichte sie an Grunthor weiter, zog mit einem Ruck den Schlüssel ab und wandte sich ihr zu, während die Luke leise hinter ihm zuklappte. Und dann war mit einem Male alles stockdunkel.
7
Von der Dunkelheit geschluckt, wurde Rhapsody ganz still. Sie wartete, bis sie sich an die Düsternis gewöhnt hatte, und versuchte dann, sich von Grunthors Hand loszureißen – ein sinnloses Unterfangen. Sie konnte den Riesen kichern hören und spürte ihn noch fester zupacken. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie bis zur Hüfte in einer lauwarmen Flüssigkeit steckte, die dickflüssiger als Wasser und von elastischen Fäden durchzogen zu sein schien, was zur Folge hatte, dass sie sich um einiges leichter wähnte.
Wenig später sah sie eine winzige Flamme aufleuchten, und Achmeds schauerliches Gesicht trat in Erscheinung. Der Anblick verschlug ihr wiederum den Atem. Grunthor ließ sie los, langte hinter sich und zog eine Fackel hinter dem Rücken hervor. Die gab er seinem Partner, der sie zum Brennen brachte und damit im Kreis herum leuchtete.
Der Schacht, durch den sie eingestiegen waren, verjüngte sich nach oben hin und verschwand im Dunklen. Darunter tanzten bizarre Schatten.
Sie befanden sich in einem weiten, unregelmäßigen Hohlzylinder aus schimmernden Wänden, in blassem Grün, stumpfem Gelb und fleckigem Weiß gestreift. Im schwachen Schein der Fackel sah sie die trübe Flüssigkeit, in der sie standen und durch die sich knotige Stränge wanden, in ähnlichen Farben schillern.
Es schien, dass hier früher einmal eine Art Stollen bis tief ins Wurzelwerk hinabgeführt hatte, der dann im Laufe der Zeit zugewachsen war. Ein wirres, lockeres Gewebe aus Pflanzenfasern durchzog den Raum und bildete dessen netzartigen Boden. Das durch die Öffnung des Einstiegs verdrängte zähflüssige Grundwasser war wieder zurückgelaufen und schwappte auf und ab.
Aus der feuchten Luft tropfte Wasser auf sie herab und verdunstete kalt auf ihrer Haut. Rhapsody blickte nach oben. Der Einstieg war nicht mehr zu sehen; in den Wänden deutete kein einziger Spalt darauf hin, dass sich dort zuvor eine Luke aufgetan hatte.
Sie rückte von Grunthor ab, der sie auf ein Zeichen von Achmed hin losgelassen hatte, streckte beide Arme nach oben und befühlte mit den Händen die Oberfläche des Holzes. Da war kein Spalt, keine Fuge.
Ein wulstiger Auswuchs, der bis dicht an ihre Hüfte reichte, bot ihr eine höhere Stufe. Mit großer Kraftanstrengung zog sie einen Fuß aus der zähen Brühe und setzte ihn prüfend darauf. Der Wulst war offenbar stabil genug. Als Nächstes suchte sie nach einem Halt für die Hände und zog sich nach oben. Auch als sie nun, im Schacht aufgerichtet, die Einstiegsstelle von nahem betrachtete, konnte sie keinen Hinweis auf eine mögliche Öffnung erkennen. Mit zitternden Händen strich sie über die glatte Oberfläche des Holzes im Kern des Baumes.
»Wo ist die Tür?«, verlangte sie zu wissen und versuchte, ihrer Stimme nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich ängstigte. »Was habt ihr getan?«
»Wir haben hinter uns zugesperrt«, antwortete Achmed nicht ohne Spott.
Grunthor stützte mit der Hand ihren Rücken, als sie auf der faserigen Wucherung ins Schwanken geriet. In ihrer erhöhten Position stand sie ihm nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber und entdeckte in seinen bernsteinfarben Augen, die sich in dem ansonsten monströsen Gesicht überraschend freundlich ausmachten, einen unverkennbaren Ausdruck von Sympathie.
»Die Tür gibt’s nich mehr, Herzchen, tut mir Leid. Aber wir müssen ja auch weiter und können nich zurück.«
Rhapsody wirbelte herum und starrte auf Achmed. Im Licht der Fackel glühten ihre Augen leuchtend grün. »Was soll das heißen, ›wir können nicht zurück‹? Wir müssen zurück. Lasst mich hier raus!«
»Unmöglich. Finde dich damit ab und komm mit uns. Wir werden nicht auf dich warten.«
Mit jedem Atemzug, den sie tat, wurde ihr die Luft in den Lungen schwerer. »Mitkommen? Seid ihr übergeschnappt? Es geht hier doch nirgends weiter.«
»Du liegst wieder einmal völlig daneben.« Der Mann, den sie Achmed die Schlange genannt hatte, schob ein paar herabhängende Schlinggewächse beiseite und watete auf die andere Seite der zylindrischen Höhlung, wo die Wand am dünnsten zu sein schien.
Er streifte seine Lederhandschuhe ab und tastete suchend über die schwammige Oberfläche, bis er eine geeignete Schwachstelle ausfindig gemacht hatte. Er nickte Grunthor zu, worauf dieser jene seltsame dreischneidige Klinge hinter der Schulter hervorzog, die er Karvolt abgenommen hatte.
Der Riese stellte sich nun so, als wollte er einen Speer werfen. Die Muskeln der mächtigen Schultern angespannt, wuchtete er die Triatine mit kraftvollem Stoß in die fleischige Wand. Dann schnitt er unter Einsatz seines ganzen Körpergewichts ein tellergroßes Stück aus der Wandmasse, die in ihrer Konsistenz einer Melone nicht unähnlich war. Die musikalischen Schwingungen des Baumes, die seit ihrem Einstieg ausgeblendet waren, schwollen plötzlich erschreckend laut an.
»Gütiger Himmel, nein«, wimmerte Rhapsody und sprang von der Stufe zurück in den Pfuhl. »Ihr tut der Sagia weh.« Sie taumelte auf Grunthor zu, wurde aber mit eiserner Hand auf Abstand gehalten.
»Unsinn. Das ist nur eine Wurzel; davon hat der Baum tausende.« Zu Rhapsodys Entsetzen riss Grunthor ein noch größeres Stück aus der Wand. »Sobald wir durchgeschlüpft sind, wird sich das Loch wieder schließen. Es wird langsam Zeit; das Wasser steigt«, sagte Achmed mit Blick auf die zähflüssige Lake, in der sie standen und die Rhapsody mittlerweile fast bis zur Brust reichte. Wieder stieß der Riese mit der dreischneidigen Waffe zu, so wuchtig, dass die Wände ringsum erzitterten.
»Ich bin durch, Meister.«
Achmed nickte. An das Mädchen gewandt, sagte er: »Hör mir genau zu, ich erklär’s nur einmal. Wir müssen jetzt das Innere der Wurzel verlassen und ihr außen folgen. Sie liegt in einer Art Tunnel, der ihr Platz lässt, um sich auszudehnen. Denn je nachdem, wie viel Wasser die Wurzel speichert, ist sie mal dicker, mal dünner. Dieser Tunnel wird uns als Korridor dienen. Wir finden darin genügend Trinkwasser und Luft zum Atmen. Und wenn wir Glück haben, führt er uns an einen Ort, wohin uns keiner unserer Feinde folgen kann. Auch du könntest dich auf diesem Weg vor Michael in Sicherheit bringen. Aber das hängt allein von dir ab. Also, du hast die Wahl, mit uns zu kommen oder zu bleiben, bis sich die Wurzel mit Wasser gefüllt hat und du darin ertrinkst.«
Rhapsody war sichtlich erschlagen von seinen Worten. Sie riss sich von ihm los und watete auf das Loch zu, das Grunthor in die Wand gehauen hatte. Der Riese wich zur Seite, um sie bis an den Rand vortreten und einen Blick durch die Öffnung werfen zu lassen. Sie sah nichts als Dunkelheit, ob sie nun nach unten blickte oder nach oben. Der Tunnel erstreckte sich entlang der fahlen Wurzel, die scheinbar endlos in den Abgrund wucherte.