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Achmed prüfte die Festigkeit der Riemen an seiner Montur. »Was ist nun? Kommst du mit?«

Gleich einer Schlammlawine stürzte die Einsicht in die Ungeheuerlichkeit ihrer Lage auf sie ein. Sie war gefangen im Innern des Baumes; mithin blieb ihr nichts anderes übrig, als in den finsteren Schacht zu steigen, der Gott weiß wohin führte. Es war ihr schon schlimm genug gewesen, Ostend verlassen zu müssen, doch nun brach ihr der kalte Schweiß aus bei dem Gedanken daran, was sie sonst noch alles aufgeben musste.

Rhapsody stieß Achmed beiseite, stakte zurück und trommelte wie wild mit den Fäusten auf die Stelle, durch die sie in den Baum eingestiegen war. Verzweifelt schrie sie um Hilfe, so laut sie nur konnte, in der Hoffnung, von den Lirinschen Wachen des heiligen Baumes gehört und befreit zu werden. Die beiden Männer schauten ihr kopfschüttelnd zu, bis es Achmed schließlich zu bunt wurde. Er streckte den Arm aus und klopfte ihr verärgert auf die Schulter. »Ich schlage vor, du hörst jetzt auf mit dem Spektakel und kommst mit. Vielleicht möchtest du dir aber lieber die Seele aus dem Leib brüllen und ersaufen. Es dauert nicht mehr lange, und die Wurzel wird voller Wasser sein.«

Rhapsody fing an zu weinen, was nur selten vorkam. Wer sie kannte, wusste, dass Tränen bei ihr ein Zeichen schierer Verzweiflung waren. Achmed verzog das Gesicht und kniff die Augen zusammen, so sehr schmerzte ihn ihr schrilles Lamento.

Er packte sie beim Arm und herrschte sie an: »Hör sofort auf damit! Sei still! Und falls du dich doch noch dazu entschließen solltest, mit uns zu kommen, so merke dir eines: Wir dulden kein Gejammer. Entscheide dich. Komm mit, wenn du willst, aber lass ein für allemal das Flennen sein.«

Er stieg durch das Loch und ignorierte Grunthors ungehaltene Miene, die dieser angesichts der Schimpftirade zog. Der riesige Bolg wandte sich dem Mädchen zu und zeigte dabei einen Gesichtsausdruck, der, wie sie während der vergangenen zwei Wochen gelernt hatte, seine Art zu lächeln war.

»Hab dich nich so, Herzchen, so schlimm wird’s nich werden. Sieh’s als ein Abenteuer an. Und es hat doch was Gutes: Den Luftverschwender bist du ein für allemal los.« Er und Achmed tauschten Blicke und nickten sich zu. Dann stieg Letzterer an der Wurzel entlang nach unten.

»Und was ist mit meiner Familie, meinen Freunden? Die werde ich doch nie mehr wieder sehen«, schluchzte Rhapsody unter Tränen.

»Wieso denn nich? Dass Achmed und ich die Insel für immer verlassen, muss doch nich heißen, dass du nie mehr zurückkehrst. Aber um zurückkehren zu können, musst du zuerst einmal weg sein, oder?«

Obwohl ihr gar nicht danach zumute war, schmunzelte Rhapsody unwillkürlich. Ausgerechnet das Monstrum versuchte sie zu trösten, während dessen Partner – angeblich der Menschenähnlichere der beiden – ihr gegenüber nur gewohnt kühle Gleichgültigkeit an den Tag legte. Die ganze Situation nahm derart unwirkliche Züge an, dass sie sich ernsthaft fragte, ob sie all dies womöglich nur träumte. Sie rieb sich die Augen und seufzte vor Erschöpfung.

»Also gut«, sagte sie zu Grunthor. »Mir bleibt anscheinend wirklich keine andere Wahl. Irgendwo wird’s hoffentlich einen Ausweg geben. Gehen wir.«

»So ist’s recht«, antwortete der Riese. »Dann komm, und immer schön hinter mir bleiben; damit wäre ausgeschlossen, dass ich aus Versehen auf dich drauffalle.« Er langte nach der Wurzel und stieg in den Schacht, der den Gefährten schon verschluckt hatte.

»Das wäre ja noch schöner!«, entgegnete Rhapsody kleinlaut. Sie kletterte durch das in die Wurzelwand gehauene Loch, ertastete ein faseriges Gewächs, das ihnen als Kletterseil diente, und hielt sich daran fest. Langsam und vorsichtig stieg sie hinab in die flackernden Schatten des tiefen Stollens, der eine der Hauptlebensadern des Baumes umhüllte. Dass er seinen Beinamen ›Eiche der tiefen Wurzeln‹ zu Recht trug, sollte sie in Bälde erfahren.

Michael irrte zwischen seinen toten Männern umher und starrte fassungslos auf das, was ihm da zu Gesicht kam. Nicht, dass ihn die Bilder als solche schockiert hätten – er war zu weit grausameren Taten in der Lage, und hier fehlte jeder Hinweis auf Folter oder sadistische Exzesse. Was ihm die Haare zu Berge stehen ließ, war vielmehr die Ahnung von der verheerenden Gewalt, die hier gewütet hatte.

Gammon ging schweigend neben ihm her, die Augen auf den Boden gerichtet. Er hatte Angst, etwas zu sagen, Angst sogar, dem Blick seines Herrn zu begegnen, zumal ihm selbst der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand. Zwar hatte er schon blutigere Schlachtfelder gesehen, gefallene Opfer in größerer Zahl, doch dass hier so viele Männer allem Anschein nach mit kühlem, gleichgültigem Sinn getötet worden waren, entsetzte ihn über die Maßen. Michael fand wenigstens seine Lust an Mord und Totschlag. Diese brutale Gleichgültigkeit aber war irgendwie noch beängstigender.

Michael hielt an. Mit einer knappen Kopfbewegung forderte er Gammon auf, den anderen dabei zu helfen, die Leichen auf einen Haufen zusammenzutragen. Dann drehte er sich langsam im Kreis herum und blickte über das weite Feld, auf dem seine Jäger gefallen waren.

Zum Schutz vor dem glastigen Licht der Nachmittagssonne hob er schirmend die Hand an die Stirn. So weit das Auge reichte, sah er nichts als offenes Gelände und hohes, sommersprödes Gras, vom warmen Wind in wogende Bewegung versetzt. In eine Falle waren seine Männer nicht gelaufen. Hinter dieser Tat konnte nur einer stecken. Der Bruder.

Die trockene Kehle schnürte sich ihm zu. Er dachte an das Mädchen. Das sonnenbeschienene, wogende Gras ließ ihn an ihr Haar denken, an die langen goldenen Wellen und wie sie ihm durch die Finger flössen. Welch ein Hochgenuss, diese Haare auf der Haut zu spüren, wenn sie im Dunklen unter ihm gelegen hatte. Dieses Gefühl hatte er auch dann nicht vergessen, wenn er andere, erotischere Gedanken an sie aus dem Kopf verbannt hatte, um nicht Gefahr zu laufen, dass sie ihn ablenkten. Jetzt, da sie fort war, sah er sich durch das hohe Gras schmerzlich an das erinnert, worauf er wohl ein für allemal würde verzichten müssen. Denn wenn der Bruder sie nun in seiner Gewalt hatte, würde sie für ihn gewiss verloren sein. Wahrscheinlich hatte der Dhrakier sie längst getötet und vor Ostend ins Meer geworfen. Über den mysteriösen Meuchelmörder war nicht viel bekannt; man wusste aber allenthalben, dass er kein Herz hatte und unempfänglich war für die Versuchungen des Fleisches. Allein dieser Zug an ihm mochte für Rhapsody eine Chance bedeuten.

»Verbrennt die Toten«, ordnete Michael an. »Dann packt alles zusammen, was noch zu gebrauchen ist, und holt die Pferde. Wir sind hier fertig.«

8

Die Probleme ließen nicht lange auf sich warten. Gleich unter dem Loch, das Grunthor in die hölzerne Wand geschlagen hatte, befand sich ein schmaler Absatz, nicht mehr als eine Unebenheit, die aber, wie alles an diesem riesigen Baum, überaus deutlich ausgeprägt war. Rhapsody hatte darauf Halt gefunden und blickte nun den beiden Männern nach, die sich eilig entfernten und bald in der Tiefe verschwunden waren, zusammen mit dem flackernden Licht der Fackel.

»Wartet!«, rief sie ihnen nach, und ihre Stimme drohte zu kippen. »Ihr seid zu schnell für mich.« Von den über die Wände des Stollens zuckenden Schatten wurde ihr ganz flau. Sie fing an zu schwitzen.

»Komisch«, antwortete die raue Stimme von unten, überraschend laut in ihrem Widerhall. »Man könnte auch meinen, du seist zu langsam.«

»Bitte«, rief sie und kämpfte gegen die neuerliche Panik an, die ihr den Hals zuschnürte. Es war still. Dann erbebte der wulstige Vorsprung unter ihren Füßen. Grunthor hatte mit seinen riesigen Pranken zugelangt und hievte sich daran hoch. Sein Gesicht war verschmiert vom Saft der Wurzel. Selbst im Dunkeln sah Rhapsody, dass er grinste.

»Was ist los, Euer Liebden?«

»Ich glaub, ich schaff das nicht«, flüsterte sie, und es gefiel ihr ganz und gar nicht, eine Schwäche eingestehen zu müssen.