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»Ach, natürlich schaffst du’s. Lass dir nur Zeit.«

»Ich bin Lirin...«

Der Firbolg kicherte. »He, erinner mich nich. Ich hab schon lange nichts Leckeres mehr zwischen die Zähne gekriegt.«

» ... und unsereins tut sich schwer unter Tage.«

»Das seh ich. Wie wär’s mit ’ner kleinen Lektion? Komm, ich zeig’s dir.« Er winkte ihr mit der einen Hand zu und hielt sich mit der anderen an dem faserigen Strang fest.

Zaghaft rückte Rhapsody bis an den Rand des Absatzes vor, riskierte einen Blick in die Tiefe und schluckte.

»Das ist schon der erste Fehler. Schau gar nich erst hin. Mach die Augen zu und dreh dich um.« Sie gehorchte. Die Armschienen von Grunthors Rüstung knarzten, als er seinen starken Arm um ihre Taille legte und sie von dem Vorsprung holte. Vor Schreck stieß sie einen spitzen Schrei aus.

»So ist es gut. Lass die Augen zu, breite die Arme aus und umklammere damit die Wurzel. Versuch dich irgendwo festzuhalten.«

Von Grunthor gestützt, streckte sie die Arme aus und fuhr mit den Händen rechts und links über die ertastete Oberfläche, bis sie die Wurzel fast mit der Brust berührte. Grunthor drückte sie noch näher heran. Der metallische Geruch seiner Rüstung, sein Schweiß und die feuchten, erdigen Ausdünstungen der Wurzel lagen ihr schwer in der Nase. Bald fand sich mit der linken Hand eine kleine Mulde, mit der rechten ein Wurzelzweig. Beides bot ihr Halt.

»Und jetzt noch die Füße. Gut so. Jetzt kannst du die Augen wieder öffnen.«

Rhapsody starrte auf die Oberfläche der Wurzel, eine dicke, fleckige Haut voller Sprossen und Flechten, ganz im Unterschied zu den Wänden im Innern stark zerklüftet und rau. Sie lehnte den Kopf an, kostete den schweren Duft, indem sie tief durch die Nase einatmete, und lauschte dem summenden Ton, der auf ihrer Kopfhaut vibrierte. Das Lied übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, selbst hier unten in der düsteren Gruft der Erde.

»Alles in Ordnung?«

Rhapsody nickte und hielt immer noch den Kopf an die bleiche Haut der Wurzel gelehnt. Letzte schwache Schatten flackerten umher, und plötzlich ging weiter unten im Tunnel leise zischend die Fackel aus.

»Na bitte, es geht doch. Nur nich nach unten sehn! Lass dir Zeit. Und keine Angst. Falls du ausrutschen solltest, bin ich zur Stelle und fang dich auf.« Der Riese gab ihr einen aufmunternden Klaps und setzte seinen Abstieg fort.

»Danke«, murmelte Rhapsody. Vorsichtig suchte sie nach weiteren Haltemöglichkeiten und kletterte Stück für Stück an der Wurzel weiter nach unten. Bald schon schmerzten Schultern, Hände und Knie vor Anstrengung – dabei war sie noch gar nicht weit gekommen.

Wie lange der Abstieg nun schon andauerte, war unmöglich einzuschätzen – bestimmt schon etliche Stunden, doch es schien ihr, als wären Tage vergangen. Sooft Rhapsody Gelegenheit dazu fand, gönnte sie sich und den schmerzenden Gliedern an der rauen Wurzelhaut einen Augenblick der Erholung.

Die beiden Begleiter waren aus ihrem Blickfeld entschwunden. Achmed hatte angeordnet, Abstand zu halten, damit die wenigen zur Rast geeigneten Stellen von jeweils einem der dreien im vollen Ausmaß genutzt werden konnten. Wenn Achmed einen solchen Vorsprung erreichte, rief er den beiden nach oben zu, dass sie es langsamer angehen lassen sollten, damit der Nächste auf dem Vorsprung ausruhen konnte, wenn er schon wieder weitergegangen war.

Es war während einer solchen Ruhepause – beide Füße standen fest verkeilt in einem waagerechten Spalt –, als Rhapsody plötzlich wieder von einer Panikattacke heimgesucht wurde.

Über die Jahrhunderte hinweg war der Schacht, in dem die Wurzel steckte, vom Wuchs des Baumes und den Niederschlägen zahlloser Regenzeiten ausgehöhlt worden, und zwar zu der Gestalt, die sie nun vorfanden. War er an der Einstiegsstelle noch so breit gewesen, dass sich seine Umgrenzung in der Dunkelheit verlor, wurde er enger und enger, je tiefer sie vordrangen. Entsprechend verjüngte sich auch die Wurzel selbst, und je schlanker sie wurde, desto zahlreicher waren die kleineren Sprossen und Triebe. Die Erde schloss sich immer enger um sie, was Rhapsody zunehmend beklommen machte. Als Halb-Lirin war sie ein Kind des freien Himmels und der offenen Flächen. Durch dunkle Tiefen zu tappen war wider ihre Natur und eine Qual auf Schritt und Tritt.

Ihr schwirrte der Kopf. Sie wähnte sich lebendig begraben, so tief verschüttet, dass sie niemand mehr fände. Auch ihre Toten würden die Lirin nie und nimmer einsargen und in der Erde vergraben. Stattdessen überantworteten sie die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen durch Feuerbestattung dem Wind und den Sternen. Umso mehr entsetzte sie der Gedanke daran, so tief ins Erdreich abgestiegen zu sein. So tief.

Plötzlich war ihr, als lastete ihr jede Krume in den Schichten über ihr auf den Schultern, als quetschten ihr die Massen an Erde die Luft aus den Lungen. Krampfhaft krallte sie sich am Wurzelstock fest. Ihr wurde schwindlig, und sie fühlte sich fiebrig.

Das tröstliche Lied des Baumes, anfangs noch gut zu vernehmen, war nur mehr ein schwaches Wispern, das ihr, statt Mut zu machen, alle Hoffnung nahm. Dass sie sich atmen und das Herz in den Ohren schlagen hörte, vermittelte ihr den Eindruck, ertrinken zu müssen. Sie rang nach Luft. Zu tief.

Zu tief.

In der Erinnerung vernahm sie die Stimme des Vaters, ernst, aber nicht streng.

Hör auf zu zappeln.

Rhapsody machte die Augen zu und konzentrierte sich mit aller ihr noch verbliebenen Willenskraft auf ihren persönlichen Grundton, auf ela, die sechste Stufe der Tonleiter. Eines der ersten Dinge, die sie in ihrer Ausbildung zur Sängerin gelernt hatte, war es gewesen, ihre innere Stimmgabel anzuschlagen, die ihr diesen Grundton zu finden half – immer, auch in höchster Not. Sie holte tief Luft und summte in der gegebenen Schwingung vor sich hin.

Auf dem kalten Wasser des Tümpels trieb grüner Schaum. Der Grund war nicht zu sehen.

Vater?

Ich bin hier, Kind. Immer schön langsam die Arme bewegen. Ja, besser.

Mir ist kalt, Vater. Ich kann mich nicht mehr über Wasser halten. Hilf mir.

Keine Angst. Ich halte dich.

Rhapsody holte noch einmal tief Luft und spürte, wie sich der Krampf in ihrer Brust ein wenig löste. Sie erinnerte sich an den Vater, an sein lächelndes Gesicht, den tropfnassen Bart und das von den Wangen perlende Wasser beim Auftauchen aus dem Tümpel vor langer, langer Zeit.

Das Wasser tut dir nicht weh; es ist die Angst, die dir schadet. Bleib ruhig.

Sie nickte wie an jenem Tag vor so vielen Jahren und schüttelte den Angstschweiß von der Stirn wie damals das Wasser von den Haaren.

Es ist so tief, Vater.

Ein Wasserstrahl, ausgespuckt aus seinem Mund. Die Tiefe ist egal, solange du den Kopf in der Luft hältst. Du kannst doch noch atmen, oder? J...ja?

Dann kümmere dich nicht darum, wie tief es ist. Denk ans Atmen, dann passiert dir nichts. Nur keine Panik. Die kann dir gefährlich werden wie sonst nichts.

Der nächste Versuch, Luft zu holen, fiel ihr schon sehr viel leichter. Erinnerungen sind die ersten Geschichten, die man selbst zu erzählen weiß, hatte Heiles, ihr Mentor, einst gesagt. Sie sind die Kunde deines eigenen Lebens. Darin steckt mehr Kraft als in allen anderen Studienfächern. Lass sie nicht ungenutzt. Nun hatte sie schon zweimal aus der Vergangenheit geschöpft und beide Male Hilfe empfangen.

Die Tiefe ist egal. Denk ans Atmen, dann passiert dir nichts. Nur keine Panik. Vorsichtig öffnete Rhapsody die Augen. »Lockenkopf?«

Die Stimme von unten kam so unerwartet, dass sie vor Schreck zusammenzuckte und wieder in Panik geriet. Sie rutschte mit den Füßen ab, suchte verzweifelt nach Halt und glitt an der öligen Wurzelhaut nach unten, über Knollen und Verästelungen hinweg, an denen sie sich sämtliche Glieder prellte. Sie schürfte sich Hände und Arme an der rauen Rinde auf und rutschte immer schneller in die Tiefe, bis Grunthors massiger Körper sie aufhielt und sie abrupt zum Stehen kam. Er fing sie ab, ohne dass er selbst darüber ins Rutschen geraten wäre. Außer sich vor Angst blickte Rhapsody auf und sah dem Riesen ins graugrüne Gesicht. Der grinste bis über beide Ohren.