»Na, Euer Liebden? So tief gesunken, dass du dich ausgerechnet mir um den Hals wirfst?«
Mit einem Schlag löste sich die Anspannung der vergangenen Tage, und obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war, fing Rhapsody lauthals zu lachen an. Der Riese stimmte mit ein.
»Grunthor.« Die trockene Stimme von unten verdarb den beiden den Spaß. Der Riese blickte ins Dunkle hinab und bekam zu hören: »Wir wechseln hier die Richtung und folgen einem anderen Weg.«
»Warte hier, Herzchen, ja?« Rhapsody nickte. Grunthor half ihr, an der Wurzelhaut Halt zu finden, zog dann eine kleine Feldflasche zum Vorschein und gab ihr daraus zu trinken, ehe er weiter nach unten kletterte, um sich mit Achmed auszutauschen. Wenig später war er zurück.
»Ein Stück weiter unten gibt’s ’nen ziemlich breiten Absatz«, sagte er. »Darauf werden wir schlafen. Halt dich fest, ich trage dich.«
Rhapsody schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Wenn’s nicht mehr weit ist, schaffe ich’s schon noch.«
»Wie du willst«, antwortete der Riese. »Es reicht mir zu wissen, dass ich dein Fall bin.« Begleitet von Rhapsodys hellem Lachen, stieg er wieder nach unten.
Schweigend und bei spärlichem Licht nahmen sie eine Mahlzeit zu sich. Achmed hatte eine weitere Fackel angezündet und aufgestellt. Rhapsody badete im warmen Schein der kleinen Flamme. Fast ausschließlich konzentriert darauf, das beklemmende Gefühl des Eingeschlossenseins abzuwehren, hatte sie gar nicht gemerkt, dass es empfindlich kalt geworden war.
Achmed hatte verschiedene Schimmelpilze und Parasiten von der Wurzel gepflückt und prüfte nun, ob sie als Brennstoff und Lichtquelle taugten. Ein schwammartiger Pilz erwies sich als durchaus geeignet; er brannte lange und glühte noch eine Weile nach, als die Flamme erloschen war. Mit dem Ergebnis zufrieden, sammelte Achmed einen kleinen Vorrat davon und steckte ihn in sein Gepäck.
»Damit hätten wir Licht«, sagte er zu Grunthor, »und ein bisschen Wärme obendrein.« Der Firbolg nagte gerade an einem Stück Dörrfleisch, das er einem von Michaels Soldaten abgenommen hatte, und nickte. »An Wasser fehlt’s natürlich auch nich.« Zum Beweis wrang er einen Zipfel seines durchfeuchteten Mantels aus, worauf sich ein dünner Wasserstrahl über seine Stiefel ergoss. Wortlos aß Rhapsody ihre Ration. Fürs Erste aufgehoben an einem sicheren Ort, fand sie Zeit, über den bisherigen Ablauf ihres gemeinsamen Unternehmens nachzudenken. Doch im Hinterkopf lauerten immer noch Angst und Panik, die in Schach zu halten all ihre Konzentration beanspruchte. So merkte sie gar nicht, dass Achmed ihr ein grünes Gemüse zu essen anbot. Erst als er ihr die Kostprobe unter die Nase hielt, merkte sie auf.
»Nimm.«
Mit angewiderter Miene nahm Rhapsody entgegen, was ihr geboten wurde, holte mehrere Male tief Luft und versuchte, Ruhe zu bewahren. Dann riskierte sie einen Versuch und verzog das Gesicht. Das Gemüse schmeckte äußerst fade und war faserig. Rhapsody kaute und kaute.
»Bäh. Was war das?«, fragte sie, nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte.
»Die Wurzel.« Achmed schmunzelte, amüsiert über ihre Reaktion.
»Die Wurzel? Ihr esst von der Sagia?«
»Du isst von der Sagia.« Er hob wie zur Abwehr die Hand. »Bevor du dich jetzt erbrichst, denk erst einmal nach. Wir werden hier wer weiß wie lange aushalten müssen und haben nur wenig Proviant. Was sollen wir essen, wenn die Vorräte aufgezehrt sind?« Er ignorierte ihre wütenden Blicke, die den anfänglichen Ausdruck spontaner Abscheu abgelöst hatten. »Oder sollte ich lieber Grunthor danach fragen?«
»Keine Sorge, Herzchen«, meinte der Firbolg-Riese mit vollem Mund. »Von dir werd ich sowieso nicht satt. Mit Verlaub, du bist mir ’n bisschen zu mager. Und wahrscheinlich auch zu zäh.«
»Was wir insgesamt an Wurzelgemüse verbrauchen werden, wird den Parasiten hier gar nicht auffallen, geschweige denn dem Baum. Der nimmt gewiss keinen Schaden, und das wirst du noch sehen. Betrachte es doch einmal so: Wir nehmen die Vorstellung vom Baum als Ernährer der Lirin einfach etwas wörtlicher.«
Rhapsody hatte schon den Mund geöffnet, um ihrem verruchten Gegenüber beizubringen, dass die Sagia ein lebendiges Wesen sei und eine Seele habe, hielt aber an sich, irritiert über das Wort, das ihr soeben zu Ohren gekommen war.
»Parasiten?«
Grunthor schnaufte. »Jetzt sag nur, die wären dir noch nich aufgefallen?«
Rhapsody sah sich hektisch um. Voller Angst und mit starkem Sinn darauf bedacht, nur ja nicht abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen, hatte sie auf Einzelheiten gar nicht erst geachtet, und selbst jetzt sah sie hinter sich kaum mehr als jene mächtige, grünlich weiße Wand aus Wurzelholz und den felsigen Tunnel ringsum, dessen enorme Ausmaße sie gänzlich einschüchterten.
»Nein.«
»Wir sind tief unter der Erdoberfläche«, erläuterte Achmed mit ungewöhnlich ruhiger Stimme. »Hier leben unter anderem Würmer und Insekten, die sich von Wurzeln ernähren. Dass hier überall Wurzeln sind, ist dir doch aufgefallen, oder?« Er sah in ihren leuchtend grünen Augen bereits wieder Panik aufscheinen und fasste sie bei den Schultern.
»Hör mir zu. Grunthor und ich wissen ziemlich genau, was wir tun. Wenn du bei uns bleibst und unseren Anordnungen folgst, kommst du aller Wahrscheinlichkeit nach mit heiler Haut hier wieder raus. Solltest du aber durchdrehen, sähe es schlecht für dich aus. Verstehen wir uns?« Sie nickte. »Na, bitte. Wenn ich mich recht entsinne, hast du vor einiger Zeit erwähnt, dass es dir als Sängerin möglich sei, den Schlaf zu verlängern. Stimmt das?«
»Ja, manchmal gelingt mir das.«
»Das könnte sich als nützlich erweisen. Wie dem auch sei, sobald wir uns ausgeruht haben, geht’s weiter, aber in eine andere Richtung. Die Wurzel verzweigt sich hier, und einer der Ableger verläuft ein Stück in der Waagerechten. Ihm werden wir folgen. Aber jetzt sollten wir erst einmal zu schlafen versuchen.« Er lehnte sich zurück an die Wurzelwand und ließ das Gesicht wieder im Dunkel der Kapuze verschwinden.
Rhapsody rückte ins Licht der Fackel und hoffte, dass es nicht verlosch, bevor sie eingeschlafen war. Sie machte die Augen zu, doch das Bild wimmelnden Ungeziefers, das an der Wurzel der Sagia fraß, vermochte sie nicht auszublenden.
Das Lied des Baumes, das, so lange sie in Bewegung gewesen war, wie von fern ertönt war, schwoll nun in der Stille an, erfüllte ihr Herz und lullte sie ein. Mit dem letzten bewussten Gedanken summte sie ihren ureigensten Grundton und ließ ihn mit dem Lied der Sagia harmonieren. Nur so war es ihr möglich, an diesem schauerlichen Ort Ruhe zu finden.
Weit entfernt, in einer Welt, die noch tiefer war als der tiefste Traum, den Rhapsody je geträumt hatte, regte sich die große Schlange im Schlaf. In den Tunneln der Vorzeit um die rudimentären Wurzelausläufer des Großen Baums gewunden, wartete die Bestie auf den Ruf. Bald, wenn der Krieg ausbräche, würde sich das Tor zur Oberwelt öffnen, durch das sie an die Oberfläche emporstiege, um endlich ihren Heißhunger stillen zu können.
9
Es war dunkel, als Achmed aufwachte und die Reste des Traums abschüttelte, der sich in seinen Schlaf geschlichen hatte. Noch ehe er die Augen aufschlug, spürte er, dass Grunthor schon wach war. Der Sergeant starrte mit verwunderter Miene auf das Mädchen, das sich, von einem Albtraum heimgesucht, wimmernd hin und her warf.
»Armes Ding.« Der Bolg lehnte sich zurück. »Meinst du, wir sollten sie aufwecken?«
Achmed schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Sie ist eine Sängerin und hat womöglich eine Vorahnung.«
»Hübsches Ding. Gefällt mir.«