Achmed musste schmunzeln. »Möglich, dass sie hellsichtig ist und in die Zukunft oder Vergangenheit blicken kann. Manche Sängerinnen sind dazu durchaus in der Lage – dann nämlich, wenn sie mit den Schwingungen der Welt im Einklang sind. In Alb träumen stecken mitunter wichtige Lehren.«
Rhapsody fing an zu schluchzen. Grunthor schüttelte den Kopf. »Keine angenehme Gabe, wie’s scheint. Ich würd sie an ihrer Stelle wieder zurückgeben.«
Achmed schloss die Augen und lauschte den Herzschlägen. Da waren natürlich seine und die von Grunthor, kräftige, rhythmische Schläge, die ihm fast so vertraut waren wie die eigenen. Dagegen hörten sich die Herztöne des Mädchens geradezu fahrig an, so als flatterten sie. Und zuletzt war da noch das Herz der Erde, das, von weither rufend, mit dumpfem Widerhall durch seine Adern, die Wurzeln des Großen Baums pulsierte, langsam und gleichmäßig. Seit undenklichen Zeiten.
Alle anderen Geräusche wurden von der Erde verschluckt; nur manchmal hörte man Wasser tropfen und Bröckchen von den Wänden rieseln. Schließlich schlug Achmed die Augen wieder auf und musterte den Freund, der nach wie vor die Sängerin betrachtete und sich dabei so hingesetzt hatte, dass sie geschützt war und von dem schmalen Absatz, auf dem sie lag, nicht abstürzen konnte.
»Es war wohl besser, wir binden sie fest, zumindest so lange sie schläft«, meinte Grunthor. Achmed stand auf und schaute über den Rand in die Tiefe. Wie die Wurzel, die immer dünner würde, verengte sich auch der Schacht. Er verschränkte die Arme und blickte wieder hinter sich.
»Für wie edel hältst du dich, Grunthor?«
Der Bolg blickte verwundert auf und schmunzelte dann. »Edel bin ich durch und durch, und zwar seit ich vor einigen Jahren diesen Edelmann verspeist hab. Warum?«
»Ich glaube, wir werden einen kleinen Umweg einschlagen.«
Das Gefühl von Wärme auf dem Gesicht weckte Rhapsody, und der Albtraum, der sie gequält hatte, löste sich vor ihren geöffneten Augen auf.
Mit einem brennenden Pilz in der Hand ging Achmed vor ihr in die Hocke. Sein Gesicht war von der Kapuze verhüllt. Noch schlaftrunken fragte sich Rhapsody, ob sie sich ihm gegenüber ein erstes Mal freundlich zeigen sollte, hatte er sie doch bei Licht erwachen lassen und ihr den Anblick seines erschreckenden Gesichts erspart. Sie bekämpfte den Widerwillen, den sie ihm gegenüber empfand, seit er sie genötigt hatte, in den Baum hinabzusteigen.
»Guten Morgen«, sagte sie.
Die verhüllte Gestalt zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst. Für mich sieht’s aus, als wär’s noch Nacht.« Er streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
Rhapsody erschauderte, als sie an ihm vorbei und über den Rand der großen Pilzkappe hinwegschaute, auf der sie lagerten. Lange Schatten lungerten an der hohen Tunnelwand. Der Riese war nirgends zu sehen.
»Wo ist Grunthor?«
»Auf der anderen Seite der Wurzel. Wir schlagen einen anderen Weg ein. Der wird dir bestimmt besser gefallen. Dazu müssen wir zuerst wieder ein Stück zurück nach oben klettern; doch dann geht’s ein gutes Stück auf gleicher Höhe weiter.«
Sie gab ihm die grob gewirkte Decke zurück, unter der sie aufgewacht war, und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Woher weißt du, dass uns dieser Weg nicht in die Irre führt? Was, wenn wir uns hier unten verlaufen?«
Achmed achtete nicht weiter auf ihre Frage. Er langte nach dem Seil, das Grunthor gesichert hatte, und machte sich auf den Weg um die Wurzel herum.
»Mir nach.«
Sich seitlich an der Wurzel entlang zu hangeln war schwerer, als an ihr hinabzusteigen. Dank des Seils, das Grunthor ausgelegt und fest verankert hatte, kam Rhapsody dennoch gut voran. Schon bald aber zitterten ihr die Arme und Beine vor Anstrengung, und sie hütete sich, in den Abgrund zu blicken, der sich dunkel und drohend unter ihr auftat. Die Luft wurde kühler. »Komm, Herzchen. Ich hab das Seil. Und lass dir ruhig Zeit.« Rhapsody holte tief Luft. Sie wusste, dass der Riese sie noch nicht sehen konnte. Seit sie sich auf den Weg gemacht hatte, rief er ihr aufmunternde Worte zu. In der dunklen Bassstimme schwang diesmal ein Ton der Unsicherheit mit. Sie hatte sich eine Weile nicht bewegt, und der Bolg schien deswegen besorgt zu sein. Sie raffte sich auf.
»Ich komme«, rief sie und erschrak über den brüchigen Klang der eigenen Stimme. Sie räusperte sich.
»Bin gleich da, Grunthor.« Bald war der Scheitelpunkt der Wölbung erreicht, und sie sah den Riesen in der Mündung eines kleinen, horizontal verlaufenden Tunnels stehen, grinsend und die Hand nach ihr ausgestreckt. Der Wurzelstock hatte hier viele kleine Ableger gebildet, die sich rechts und links ins Erdreich bohrten. »Nich so hastig«, warnte Grunthor. »Lass dir Zeit.« Rhapsody nickte und schloss die Augen. Die Hände fest am Seil, suchte sie mit den Füßen Halt und lauschte dabei ihrem rasenden Herzen. Schritt für Schritt, langsam. Wie in der Nacht zuvor stimmte sie leise summend ihren ureigenen Grundton an, brachte ihn in Harmonie mit dem Lied des Baumes und fühlte, wie ihr die Musik neue Kraft verlieh.
Eine Ewigkeit schien ihr vergangen zu sein, als sie endlich die kräftigen Hände des Riesen auf dem Arm und im Rücken spürte. Grunthor löste sie vom Seil und setzte sie sanft auf festem Boden ab. Rhapsody schlug die Augen auf und fand sich in einem Tunnel wieder, in dem Grunthor gerade aufrecht stehen konnte. Der Seitentrieb der Wurzel hing waagerecht neben ihr in der Luft. Mit einem Ausruf der Erleichterung fiel sie spontan auf die Knie und ertastete mit beiden Händen den Boden unter ihr.
Der Riese lachte. »Das gefällt dir wohl, nich wahr?« Er reichte die ihr eine Hand. »Nun denn, vielleicht sollten wir uns wieder auf den Weg machen, Euer Liebden. Wir ham Zeit wettzumachen.«
Doch erschöpft, wie sie war, schüttelte Rhapsody den Kopf, legte sich auf den Rücken und streckte alle viere von sich. »Ich kann nicht. Ich muss mich ausruhen, tut mir Leid.« Sie fuhr mit der Hand über die Tunnelwand und starrte unter die bröckelnde Decke.
Der Bolg-Sergeant wurde ernst. »Na schön, Euer Liebden, aber nich lange. Wir müssn weiter. Hier kann jeden Moment die Decke über uns einstürzen«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
Seufzend ergriff Rhapsody seine Hand. »Sei’s drum«, flüsterte sie. »Dann geht’s eben weiter.«
Der Wurzelstollen wurde enger und enger, und Grunthor musste sich immer tiefer ducken, bis er schließlich nur noch kriechend vorankam. Doch dann öffnete sich der Gang in einen weiten Raum, in den von hoch oben sogar ein wenig Licht fiel. Rhapsodys Herz machte einen Freudensprung. Die Oberfläche schien nicht mehr fern zu sein.
Sie trat in den weiten Raum und richtete sich auf. Was sie sah, benahm ihr den Atem.
Vor ihr ragte ein riesiger, knollenartiger Turm auf, von dem dünne Seitentriebe abzweigten, die lang und schlaff herabhingen.
Im Vergleich dazu war der Wurzelstock, an dem sie in die Tiefe geklettert waren, nichts weiter als ein Ableger.
Die Augen vermochten ihr nicht zu folgen, so hoch türmte sich die Wurzel in dem weiten Schacht auf. War der Gang, durch den sie abgestiegen waren, noch vollkommen dunkel gewesen, schimmerte hier ein schwacher roter Schein, der weniger Licht denn Wärme ausstrahlte. Andere waagerechte Stollen gab es keine; zu sehen war nur ein weiterer Abgrund, aus dem diese neue Wurzel aufstieg. Die Enttäuschung darüber, nun doch nicht, wie erhofft, dicht unter der Oberfläche zu sein, machte ängstlicher Verwunderung Platz. »Himmel, was ist das?«, dachte Rhapsody laut.
»Wird wohl die Pfahlwurzel sein, das, was den Baum mit der Hauptlinie verbindet«, spekulierte Grunthor.
»Hauptlinie? Was soll das heißen?«
Aus dem Dunkel vor ihr war ein abfälliges Schnaufen zu vernehmen, und gleich darauf zeigte sich Achmed am Rand des Tunnels. Sie hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen, so gut hielt er sich in der Dunkelheit versteckt.
»Man sollte doch meinen, dass du dich in der lirinschen Stammeskunde zumindest halbwegs auskennst. Hast du etwa geglaubt, dass wir das Ende schon erreicht hätten? Wir haben es noch nicht einmal bis zur eigentlichen Wurzel geschafft.«