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Rhapsody fühlte sich wie erschlagen. Um nicht der Verzweiflung nachzugeben, die von ihr Besitz zu ergreifen drohte, besann sie sich auf die Geschichten von der Sagia, die sie kannte. Es ist die Eiche der tiefen Wurzeln, hatte die Mutter erzählt; deren Venen und Arterien sind Lebensadern, die sich durch die ganze Erde ziehen und überall auf der Welt auch anderen heiligen Bäumen, den so genannten Wurzelgeschwistern, Nahrung spenden. Sie hatte von den gewaltigen Ausmaßen des Baums gesprochen, womit Rhapsodys kindliche Vorstellung indes schlichtweg überfordert gewesen war. Die Wurzeln der heiligen Bäume verliefen entlang der Axis Mundi – so hatte die Mutter jene Mittellinie der Erde genannt, die nach Ansicht der Lirin und im Unterschied zur Lehrmeinung aller anderen Völker rund war. Diese Hauptachse, um die die Erde kreiste, wurde als eine unsichtbare Kraftlinie angesehen, mit der die Wurzel der Sagia verschmolzen war. Darin lag auch der Grund dafür, warum der Baum die Weisheit aus Jahrtausenden widerhallen ließ und warum er so unglaubliche Dimensionen angenommen hatte. Er sei mit der Seele der Welt verbunden, hatte die Mutter gesagt. Ob Achmed darauf anspielte?

»Du meinst die Axis Mundi.«

»Genau die und keine andere.«

Achmed spuckte in die Hände und ergriff eine der Radix genannten schlaffen Seitenwurzeln. Er zog sich daran hoch und stieg mit den Füßen von dem Wulst, auf dem er stand, auf den nächst höheren. So kletterte er an der Pfahlwurzel empor. Um gut zwei Körperlängen vorangekommen, blickte er über die Schulter nach unten. »Worauf wartet ihr noch?«, fragte er mit seiner Reibeisenstimme, die Rhapsody schon in Ostend hatte aufhorchen lassen. Er musterte sie mit einer Miene, die zweierlei zum Ausdruck brachte: Ablehnung und Gleichgültigkeit. »Kommst du?«

»Wie weit geht es noch?«

»Keine Ahnung. Ein Ende ist nicht abzusehen, so gut meine Augen unter Tage auch sind. Uns bleibt jedoch keine andere Wahl. Oder hast du einen besseren Vorschlag?«

Rhapsody war sich immer noch nicht schlüssig, ob sie Achmed als ihren Retter oder Entführer ansehen sollte. Jedenfalls war sie ihm ausgeliefert. Er hatte sie ins Innere des Baums gelockt, aus dem es kein Heraus gab, außer entlang der Wurzel, und auch dieser Weg ließ nicht viel hoffen. Sie versuchte, sich äußerlich nichts von der Wut anmerken zu lassen, die sie empfand, und sagte: »Tut mir Leid, den habe ich nicht. Ich komme.«

Der Anstieg war überaus anstrengend. Ein ums andere Mal rutschte Rhapsody ab und drohte abzustürzen. Dabei hatte sie anfangs kaum Schwierigkeiten gehabt. Die vielen Unebenheiten und Auswüchse der Wurzel boten Händen und Füßen genügend Halt, sehr viel mehr als an jener Wurzel der Sagia, über die sie abgestiegen waren.

Aber je länger die Kletterei andauerte, desto ärger schmerzten ihr die Schultern. Um die Arme zu entlasten, versuchte sie, die Beine besser einzusetzen, doch auch das half kaum. Zu groß war die Erschöpfung. Die beiden Begleiter hatten sie schon weit hinter sich gelassen. Doch so überlegen sie ihr an Kräften auch waren, sie mussten der Anstrengung ebenfalls Tribut zollen, wurden selbst immer langsamer und blieben in Sichtweite, das hieß, nur Grunthor blieb für sie in Sicht, denn er versperrte den Blick auf alles andere. Nach unten hin war nichts mehr zu erkennen, kein Grund, nur Dunkelheit. Ihr war, als schwebte sie in der Luft, zwischen Himmel und Erde.

Der Gedanke an einen Himmel voller Sterne trieb ihr Tränen in die Augen, doch bei der Erinnerung an Achmeds warnende Worte über das Weinen biss sie die Zähne zusammen. Das Volk, dem ihre Mutter entstammte – die Liringlas oder Himmelssänger –, glaubte, dass alles Leben Teil ihres Gottes war. Der Himmel, das schirmende Firmament, war für sie heilig und gehörte ihrer Vorstellung nach zur Seele des Universums. Deshalb feierten sie die tagtäglichen Veränderungen am Himmel mit Liedern, ehrten voller Hingabe Auf- und Untergang der Sonne und das Auftauchen der Sterne.

Die in ihrem Leben erlittenen Schmerzen hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Als junges Mädchen war sie von zu Hause weggelaufen, doch es verging seitdem kaum ein Tag, an dem sie sich nicht danach sehnte, reumütig zu den Eltern zurückzukehren. Die tägliche Andacht, vor allem die Lieder an die Sterne, waren ihre Art, Trost zu suchen, bis sich diese Sehnsucht endlich irgendwann erfüllen würde. So sang sie mit treuem Herzen ihre morgendlichen Aubaden und am Abend ihre Serenaden, und sie dachte dabei an ihre Mutter, von der sie wusste, dass auch sie die alten Lieder ihres Volkes singen und an ihr verlorenes Kind denken würde. Jetzt steckte dieses Kind gefangen in der Erde, tief unter der Oberfläche, in der Angst, den Himmel womöglich nie mehr wieder zu sehen.

»Alles in Ordnung da unten?« Grunthors Bass schreckte sie aus ihren traumverlorenen Gedanken auf. Hoch über ihr lehnte sich der Sergeant zurück, um besser sehen zu können, was sich in der Dunkelheit unter ihm tat.

Rhapsody seufzte. »Alles in Ordnung«, antwortete sie und setzte den Aufstieg fort, so schwer er ihr auch fiel.

Zum Glück dauerte es nicht mehr lange, bis Achmed einen Sims erreichte, der ihm und Grunthor ausreichend Platz zum Ausruhen bot. Gleich darunter befand sich in der Wurzel eine Höhlung, in der auch Rhapsody ihre erschöpften Glieder ausstrecken konnte. Grunthor beugte sich über den Rand und reichte ihr eine Flasche, gefüllt mit Tropfwasser, das er unterwegs aufgefangen hatte.

»Da, lass es dir schmecken, Euer Hochwohlgeboren. Es geht doch, oder?«

Sie fühlte sich zu schwach zu antworten, nickte nur lächelnd und trank. Wenig später landete ein Seil in ihrem Schoß.

»Binde dich damit an einer der kleinen Wurzeln fest«, rief Achmed. »Wir werden hier schlafen. Doch ungesichert solltest du niemals die Augen zumachen.« Rhapsody schaute auf und begegnete seinem Blick. Obwohl vor Erschöpfung ganz benommen, verstand sie doch sehr wohclass="underline" Ein Ende, wenn es denn überhaupt eines gab, war immer noch nicht in Sicht.

Sie setzten ihren Aufstieg weiter fort. Jedes Zeitgefühl ging verloren. In Zeit und Raum schien es nichts anderes zu geben als sie selbst, die Wurzel und den endlosen Aufstieg. Wie lange er nun schon andauerte, war unmöglich zu sagen. Rhapsody empfand nur selten Hunger, und aus Rücksicht auf sie aßen die beiden Männer noch seltener; darum aber ließ sich auch nicht anhand regelmäßig eingenommener Mahlzeiten der Ablauf der Zeit bestimmen, was sie schließlich gar nicht mehr ernstlich versuchte. Sie resignierte vor dem Gedanken, dass sie womöglich auf immer weiterklettern musste und auf diesem Weg kein Ende erreichen konnte.

Achmed und Grunthor hatten sich inzwischen an ihre Begleiterin gewöhnt. Sie beklagte sich nie und sprach selten. Problematisch war nur, dass ihr die Kletterei besonders schwer fiel. Sie war klein und der Wurzelstock so groß, dass sie nur wenig Halt daran fand und häufig ausrutschte. Grunthor musste immer wieder Pausen einlegen, um sie aufschließen zu lassen.

Am meisten machten den beiden ihre Albträume zu schaffen, zumal sie bei der Suche nach geeigneten Schlafplätzen darauf achteten, dass sie möglichst nahe beieinander blieben. Es verging keine Schlafrast, ohne dass Rhapsody nicht schweißüberströmt, in Panik und keuchend aufgewacht wäre. So tief unter der Erde zu sein schlug sich auch auf ihre Träume nieder. Sie hatte die seltsamsten Visionen und unerklärliche Gesichte, die von wirklicher Erfahrung weit entfernt waren. Oft träumte sie von der Sagia; manchmal ging sie in der Dunkelheit des stillen Tals um den Baum herum, berührte staunend die schimmernde Borke und konnte doch die Öffnung nicht finden, durch die sie zu dritt eingestiegen waren.

In einem besonders verstörenden Traum sah sie einen Stern ins Meer fallen und das Wasser zu turmhohen Wellen aufrühren, die brennend die Insel verschlangen. In den Zweigen der Sagia sah sie tausende von Lirin-Sängern hängen, in grünen Kleidern und mit Kränzen aus Wildblumen im Haar und um den Hals, und während der Baum im Meer versank, erklangen ihre wunderschönen Gesänge. Rhapsody stöhnte und weinte im Schlaf, wälzte sich hin und her und zerrte an den Stricken, mit denen sie sich festgebunden hatte. Einmal, als Achmed gerade Wache schob, rupfte er eine der zahllosen knolligen Wucherungen von der Wurzelhaut und bewarf sie damit in der Hoffnung, dass sie zu weinen aufhörte. Und tatsächlich wurde sie still, denn der Traum wechselte und führte sie zurück in die Vergangenheit.