Ihm gingen viele mögliche Antworten durch den Kopf, wozu seine Miene einen jeweils entsprechenden Ausdruck zeigte. »Nein«, sagte er schließlich.
Emily drehte ihm den Rücken zu und stellte sich mit dem Gesicht zum Baum. Er sah ihr zu, wie sie das Mieder des Samtkleides löste, was geschehen war, ehe er sich dessen bewusst wurde, dass seine stierenden Blicke ungehörig waren. Dann trat sie aus dem zu Boden gefallenen Überkleid, hängte es vorsichtig an einen Zweig und wandte sich ihm wieder zu. Sie trug nun nur noch ein ärmelloses Unterkleid aus weißer Spitze. Der Busenstreif, auf den Gwydions Blick gleich zu Anfang ihrer Begegnung gefallen war, war ein Teil des samtenen Mieders und mit ihm abgelegt worden.
Sie setzte sich auf seinen Umhang, schaute zum Himmel empor und fragte, nachdem er neben ihr Platz genommen hatte: »Was willst du über die Sterne wissen?« Das Haar fiel ihr über die Schultern, und Gwydion musste schwer an sich halten, um nicht mit der Hand danach zu langen.
»Alles. Ich kenne nicht einen. Darum wäre mir jeder Hinweis eine Hilfe. Hier stehen ganz andere Sterne am Himmel als dort, wo ich herkomme.« Was als einfache Feststellung gemeint war, brachte Emily sichtlich zum Staunen. Sie lehnte sich zurück und bettete den Kopf auf das Kissen aus Moos am Wurzelstock des Baumes.
»Nun, fangen wir mit Seren an. Das ist der Stern, nach dem unsere Insel benannt ist. Im Frühjahr und Sommer steht er um Mitternacht genau im Zenit.«
Gwydion legte sich ebenfalls zurück und streckte den Arm über ihrem Kopf aus, war noch auf Abstand bedacht, um ihr ja nicht lästig zu werden. Aber wie an diesem Abend schon einige Male zuvor, erriet sie auch jetzt, was ihm durch den Kopf ging. Und so nahm sie seinen Arm und führte ihn um ihre Schultern, ohne den Unterricht in Sachen Astronomie zu unterbrechen.
Sie machte ihn auf einzelne Sterne und Sternbilder aufmerksam und berichtete, was sie an Mythen und wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber wusste. Und das war erstaunlich viel. Sie kannte sich unter anderem recht gut aus in der navigatorischen Astronomie, was Gwydion besonders interessant fand. Doch nach einer Weile folgte er nicht länger ihrem Blick zu dem Sternenzelt, sondern betrachtete stattdessen ihr Gesicht. Darin schimmerte ein eigenes Himmelslicht, und er fand, dass er von ihren Sternenaugen sehr viel mehr lernen konnte als durch das Studium des Firmamentes. Er rollte sich auf die Seite, legte den Kopf auf den angewinkelten Arm und grinste einfältig.
Es dauerte eine Weile, bis Emily aufmerkte und von seiner törichten Miene Notiz nahm. Sie errötete und richtete sich eilig auf.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht mit meinen Vorträgen langweilen.«
»Das hast du auch nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Ich war ganz Ohr.« Er streckte den Arm aus.
»Erzähl mehr.«
Sie legte sich wieder zurück und starrte mit ernster Miene nach oben. Für eine Weile sagte sie nichts, und als sie den Mund wieder aufmachte, schwang in ihrer Stimme eine traurige Note mit.
»Weißt du, so weit ich mich Zurückentsinnen kann, habe ich von diesem Ort geträumt«, sagte sie leise. »Bis vor kurzem kam mir fast jede Nacht der gleiche Traum: Ich war hier draußen im Dunkeln unter den Sternen und streckte die Hände nach ihnen aus. Und die Sterne fielen vom Himmel auf mich herab. Ich konnte sie festhalten, schloss die Hand um sie zur Faust und sah sie zwischen den Fingern glühen. Wenn ich dann aufwachte, war ich immer sehr glücklich, und dieses Gefühl dauerte meist den ganzen Morgen an. Aber dann änderte sich der Traum. Ich vermute, es war zu der Zeit, als ich der Hochzeitslotterie beitreten musste. Eigentlich hätte das schon vor einem Jahr der Fall sein sollen, aber mein Vater meinte, das sei zu früh. Heuer gab’s aber keinen Weg mehr dran vorbei, und meine Eltern mussten mich, gegen ihren und meinen Willen und wie es die Tradition hier bei uns verlangt, aufbieten wie ein Pferd zur Auktion. Mein ganzes Leben hat sich mit einem Mal von Grund auf verändert – und damit auch meine Träume. Jetzt träume ich nur noch selten von den Sternen, und wenn ich es tue, ist es nicht mehr dasselbe.«
»Was ist anders?«, fragte er voller Mitgefühl.
»Nun, anfangs scheint noch alles beim Alten zu sein. Ich bin hier im Dunkeln bei der Weide, und die Sterne leuchten so hell wie immer. Aber wenn sie dann vom Himmel fallen, kann ich sie nicht halten. Sie fallen mir durch die Finger und landen im Bach, wo sie mir dann aus dem Wasser von unten entgegenfunkeln.«
Gwydion spürte, wie die Traurigkeit in ihrer Stimme auf ihn überging. »Hast du eine Ahnung, was das bedeuten könnte?«
»Ich glaube, ja«, antwortete Emily. »Wahrscheinlich ist mir klar geworden, dass all das niemals Wirklichkeit werden wird, was ich mir in meinen schönsten Vorstellungen ausgemalt habe, nämlich die Welt zu sehen, zu studieren und Abenteuer zu erleben. Stattdessen ist mir wohl nur das beschieden, wovon meine Freundinnen immer geträumt haben: zu heiraten, eine Familie zu gründen und den Rest des Lebens hier in diesem Tal zuzubringen. Nun ja, dagegen habe ich ja eigentlich nichts einzuwenden, zumal ich dieses Tal liebe, und ich bin glücklich hier. Aber ich dachte ...«Ihre Stimme wurde immer leiser und verstummte dann ganz.
»Was dachtest du?«
»Ich dachte, da wäre mehr. Zugegeben, so zu denken ist selbstsüchtig und kindisch. Aber ich hatte gehofft, irgendwann einmal in Wirklichkeit zu erleben, was mir in meinen Träumen erschienen war. Dass ich jetzt anders träume, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich diese albernen Hoffnungen aufgegeben habe und in wenigen Tagen jemanden heiraten werde, der mir durch Los zufällt. Wenn ich Glück habe, wird er nett zu mir sein oder wenigstens nicht grob und gemein wie so viele Bauernsöhne. Ich werde hier bis an mein Lebensende wohnen und nie etwas anders als dieses Tal zu Gesicht bekommen. Vermutlich war mir das im Grunde meines Herzens immer schon klar. Jedenfalls kommen mir die schönen Träume nur noch selten. Womöglich werden sie bald ganz ausbleiben. Ich werde sie vergessen und mein Leben leben, so wie es mir bestimmt ist.«
Ihre Worte taten ihm in der Seele weh. »Nein!«, platzte es aus ihm heraus.
»Nein?«
Wieder setzte sich Gwydions praktischer Sinn durch, und die Antwort stand ihm klar vor Augen. Er richtete sich auf und sagte: »Emily, wie sehen bei euch die Hochzeitsbräuche aus? Ist es möglich, die Lotterie zu umgehen und direkt bei deinem Vater um deine Hand anzuhalten?«
Emilys Augen leuchteten kurz auf, wurden aber schnell wieder traurig. »Oh, Sam«, seufzte sie. »Mein Vater würde mich nie mit dir wegziehen lassen. Er hat seit meiner Geburt für meine Mitgift gespart und dieses Weideland hier für mich bewahrt, um sicherzustellen, dass ich nur ja der Familie verbunden bleibe, egal, wer mich einmal heiraten wird. Nein, er würde nie darin einwilligen, dass ich auswandere.«
Gwydion war verzweifelt. Er konnte ihr nicht in Worten erklären, warum es so dringlich war, das Tal zu verlassen. »Würdest du denn trotzdem mit mir kommen, Emily? Willst du mit mir durchbrennen?«
Sie blickte auf ihre Hände und ließ sich mit der Antwort so lange Zeit, dass er vor Nervosität zitterte. Endlich blickte sie auf, und ihre Miene verriet Entschlossenheit.
»Ja«, antwortete sie. »Darauf zu verzichten wäre doch eine Verschwendung an Hoffnung, oder?«
Vor Erleichterung stieß Gwydion einen Schwall Luft aus. »Allerdings«, sagte er, drückte sie fest an sich und legte seine heiße Wange an ihr Gesicht. »Ist da jemand im Dorf, der uns trauen könnte?«
Emily seufzte. »In ein paar Tagen wird jemand da sein, aber erst nach der Lotterie. Dann heiraten alle, die in diesem Jahr dran sind.«
Gwydion zog sie noch enger an sich. Er wusste nicht, wie lange sich die Flucht noch aufschieben ließ, war aber gern bereit, eine Weile geduldig abzuwarten, um Emily nicht unnötig in Angst zu versetzen.