Die Gestalt unter der Decke regte sich nicht.
Colla ging vorsichtig weiter. Er fürchtete sich vor dem, was er finden würde, er wußte instinktiv, daß etwas sehr Schlimmes passiert war. Er zog den Vorhang vor dem Fenster weg, so daß Licht ins Zimmer strömte. Sogleich bemerkte er, daß die Decke auch den Kopf der Gestalt bedeckte, die auf dem Bett ruhte. Auf dem Boden lag ein Schlächtermesser. Er sah, daß es aus seiner eigenen Küche stammte.
»Schwester?« In seiner Stimme schwang jetzt Verzweiflung mit. Er wollte nicht glauben, was er bereits ahnte.
Mit zitternder Hand erfaßte er einen Zipfel der Decke. Sie fühlte sich naß an. Ohne hinzusehen wußte er, daß es kein Wasser war. Sanft zog er die Decke vom Gesicht weg.
Die junge Frau lag da, die Augen weit offen und starr, der Mund vom Schmerz verzogen. Ihre Haut war wachsbleich. Sie mußte schon einige Zeit tot sein. Zutiefst erschrocken zwang sich Colla dazu, den Blick von ihrem blassen, erstarrten Gesicht auf ihren Körper zu wenden. Ihr Hemd aus weißem Leinen war zerrissen und zerfetzt und mit Blut durchtränkt. Solche wütenden Messerstiche hatte er noch nie gesehen. Der Körper war zerstochen und zerhackt, als habe ein Fleischer den weichen Leib der jungen Frau für ein Schlachtlamm gehalten.
Mit einem Stöhnen ließ Colla die blutgetränkte Decke wieder über die Gestalt sinken. Er wandte sich rasch ab und erbrach sich.
Kapitel 2
Fidelma von Cashel lehnte sich gegen die Heckreling des Schiffes und sah zu, wie die auf und ab wippende Küstenlinie mit überraschender Schnelligkeit hinter ihr verschwand. Sie war an diesem Morgen als letzte an Bord gekommen, und im nächsten Moment hatte der Kapitän schon den Befehl gegeben, das mächtige viereckige Segel an seiner Rahe am Großmast hochzuziehen. Gleichzeitig holten andere Matrosen den schweren Anker ein. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, unter Deck zu gehen und ihre Kajüte zu besichtigen, bevor das Schiff in Fahrt kam. Sein Segel aus dünnem Leder knallte und bauschte sich im Wind wie eine Lunge, die sich mit Luft füllt. »Steuersegel setzen!« schrie der Kapitän mit Stentorstimme. Die Mannschaft rannte zu einem Mast, der schräg nach vorn wies. Ein kleines Segel wurde an einer Rahe gesetzt. Auf dem erhöhten Achterdeck standen neben dem Kapitän zwei kräftige, untersetzte Männer. Hier war an der Backbordseite des Schiffes das lange Steuerruder angebracht. Es war so groß, daß nur beide Matrosen gemeinsam es handhaben konnten. Der Kapitän rief einen Befehl, und die Matrosen drehten das Ruder. Das Schiff wurde von der Ebbe erfaßt und glitt durch die Wogen wie eine Sense durchs Korn.
So schnell lief die »Ringelgans« aus der Bucht von Ardmore aus, daß Fidelma beschloß, zunächst nicht unter Deck zu gehen, sondern oben zu bleiben und sich das Manöver anzusehen. Von ihren Mitreisenden war niemand zu erblicken außer zwei jungen Mönchen, die Arm in Arm mittschiffs an der Backbordreling standen, ins Gespräch vertieft. Fidelma nahm an, alle anderen Pilger hielten sich unter Deck auf. Ein halbes Dutzend Matrosen, die das Schiff über das stürmische Meer nach Iberia zu segeln hatten, gingen unter den wachsamen Augen des Kapitäns ihren verschiedenen Tätigkeiten nach. Fidelma fragte sich, warum wohl die anderen Passagiere einen der aufregendsten Augenblicke zu Beginn einer Seereise versäumten, das Auslaufen aus dem Hafen. Sie selbst hatte schon mehrere Reisen zu Schiff unternommen, aber was man beim Inseegehen sah und hörte, fesselte sie jedesmal, von dem ersten Wellenschlag gegen den Rumpf bis zum Auf und Ab der zurückweichenden Küstenlinie. Sie konnte stundenlang beobachten, wie das Land allmählich am Horizont verschwand.
Fidelma war eine geborene Seefahrerin. Oft war sie mit einem kleinen Boot an der wilden, sturmumtosten Westküste zu abgelegenen Inseln unterwegs gewesen und hatte nie Furcht empfunden. Vor einigen Jahren hatte sie Iona besucht, die Insel der Heiligen vor der Küste des gebirgigen Alba, auf ihrem Weg zur Synode von Whitby in Northumbria, und von dort war sie den ganzen Weg über Gallien bis nach Rom und zurück gereist, und selbst bei den heftigsten Schiffsbewegungen war sie niemals seekrank geworden.
Bewegung. An dem Begriff blieben ihre Gedanken hängen. War das vielleicht die Lösung? Von Kind auf war sie geritten. Sie hatte sich wohl an die Bewegungen der Pferde gewöhnt und reagierte deshalb auf die Bewegungen eines Schiffes nicht so wie jemand, der stets auf festem Boden gestanden hatte. Sie nahm sich vor, auf dieser Reise etwas über Seefahrt, Navigation und Entfernungen über See dazuzulernen. Was nutzte es, wenn man eine Seereise genoß, aber ihre praktische Seite nicht verstand?
Sie lächelte über das ziellose Wandern ihrer Gedanken und richtete sich an der hölzernen Reling auf, um noch einmal nach der verschwindenden Anhöhe von Ardmore mit den großen grauen Steingebäuden der Abtei zu spähen. Dort hatte sie als Gast des Abts die vorige Nacht verbracht.
Als sie an die Abtei des heiligen Declan dachte, fühlte sie sich plötzlich einsam.
Eadulf! Die Ursache war ihr sofort klar.
Bruder Eadulf, der angelsächsische Mönch, war als Abgesandter des Erzbischofs Theodor von Canterbury an den Hof ihres Bruders, des Königs Colgü von Muman, nach Cashel gekommen. Bis vor ungefähr einer Woche war Eadulf fast ein Jahr lang ihr ständiger Begleiter gewesen, ihr hilfreicher Gefährte in vielen gefährlichen Situationen, während sie ihr Geschick als dalaigh, als Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche von Eireann, zu beweisen hatte. Warum überkam sie plötzlich diese Erinnerung?
Es war schließlich ihre eigene Entscheidung gewesen. Vor ein paar Wochen hatte Fidelma beschlossen, sich von Eadulf zu trennen und diese Pilgerfahrt anzutreten. Sie hatte gemeint, sie brauche einen Ortswechsel und Zeit zum Nachdenken, denn sie war mit ihrem Leben unzufrieden. Fidelma fürchtete sich davor, sich an bestimmte Gefühle zu gewöhnen, und sie fand, daß sie das gerade tat; sie traute ihren eigenen Vorstellungen von ihrem Lebensziel nicht mehr.
Doch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham war der einzige Mann ihres Alters, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich ungezwungen bewegen und sich frei ausdrücken konnte. Eadulf hatte lange gebraucht, bis er ihren Entschluß, Cashel zu verlassen und auf diese Pilgerfahrt zu gehen, akzeptiert hatte. Eine Zeitlang hatte er versucht, sie davon abzubringen. Schließlich hatte er sich entschieden, nach Canterbury zu Erzbischof Theodor zurückzukehren, dem neuernannten griechischen Bischof, den er von Rom hierher begleitet hatte und dem er als Sondergesandter diente. Fidelma ärgerte sich darüber, daß sie Eadulf schon vermißte, während die Küste noch in Sicht war. Die kommenden Monate drohten einsam zu werden. Die Gespräche mit Eadulf würden ihr fehlen, ihre gegenseitigen Neckereien über ihre unterschiedlichen Meinungen und Lebensauffassungen und seine Art, immer gutmütig darauf einzugehen. Sie stritten sich oft heftig, aber niemals entstand Feindschaft zwischen ihnen. Sie lernten voneinander, indem sie ihre Sichtweisen prüften und ihre Vorstellungen besprachen.
Eadulf war wie ein Bruder für sie gewesen. Vielleicht war das das Problem. Er hatte sich ihr gegenüber immer untadelig verhalten. Sie fragte sich nicht zum erstenmal, ob es ihr anders lieber gewesen wäre. Mönche und Nonnen lebten schließlich zusammen, heirateten, und die meisten wohnten in conhospitae oder gemischten Häusern und erzogen ihre Kinder in christlichem Sinne. Wünschte sie sich das auch? Sie war eine junge Frau mit den Sehnsüchten einer jungen Frau. Eadulf hatte nie zu erkennen gegeben, daß er sich so zu ihr hingezogen fühlte, wie es einen Mann zu einer Frau hinzog. Einmal auf einer Reise hatten sie eine kalte Nacht auf einem Berg verbracht, und sie hatte Eadulf gefragt, ob er das alte Sprichwort kenne, eine Decke sei wärmer, wenn man sie doppelt benutze. Das hatte er nicht verstanden. Näher waren sie diesem Thema nie gekommen.
Auch darin, überlegte sie, war Eadulf ein getreuer Anhänger der römischen Kirche, die zwar den Klerikern noch gestattete, zu heiraten und mit einer Frau zusammenzuleben, aber schon deutlich auf das Zölibat zusteuerte. Fidelma wiederum gehörte der irischen Kirche an, die in vielen Gebräuchen und Riten von der römischen abwich, selbst in der Datierung des Osterfests. Sie war ohne jede Einschränkung ihrer natürlichen Gefühle aufgewachsen. Die Unterschiede zwischen ihrer Kultur und der jetzt von Rom propa-gierten waren der Hauptgrund für die Debatten zwischen ihr und Eadulf. Bei diesem Gedanken fiel ihr sofort der Prophet Arnos ein: »Mögen auch zwei miteinander wandeln, sie seien denn eins untereinander.« Vielleicht stimmte diese Weisheit, und sie sollte das Thema Eadulf ganz vergessen.