Sie wünschte, ihr alter Lehrer, der Brehon Morann, wäre hier und könnte ihr raten. Oder auch ihr Vetter, der pausbäckige, unbekümmerte Abt Laisran von Durrow, der sie als junges Mädchen erst dazu überredet hatte, Nonne zu werden. Was hatte sie hier überhaupt zu suchen? Lief sie davon, weil sie keine Lösung für ihre Probleme finden konnte? Falls es so war, würde sie diese Probleme in jeden Winkel der Erde mitnehmen. Am Ziel ihrer Reise würde keine Lösung auf sie warten.
Sie hatte sich diese Pilgerfahrt eingeredet zu dem Zweck, ihr Leben neu zu ordnen, ohne von Eadulf, von ihrem Bruder Colgü oder ihren Freunden in seiner Hauptstadt Cashel beeinflußt zu werden. Sie suchte einen Ort, der in keinerlei Beziehung zu ihrem bisherigen Leben stand, an dem sie nachdenken und sich über vieles klarwerden konnte. Doch sie befand sich an einem Scheideweg. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie weiter eine Nonne bleiben wollte! Sie erschrak darüber, daß sie so etwas auch nur dachte, und begriff, daß sie damit die Frage gestellt hatte, die sie seit mindestens einem Jahr verdrängte.
Sie hatte sich zum Leben in einer religiösen Gemeinschaft entschlossen, weil die meisten aus der gei-stigen Führungsschicht ihres Volkes das taten, alle, die einen geistigen Beruf ergreifen wollten, so wie ihre Vorfahren alle Druiden gewesen waren. Ihr Interesse und ihre Leidenschaft hatten der Rechtskunde gegolten, nicht der Religion in dem Sinne, daß sie sich einem Leben der Hingabe an Gott in einer Abtei geweiht hätte, abgesondert vom Rest ihrer Zeitgenossen. Sie erinnerte sich jetzt daran, daß die Oberin ihrer Abtei sie gescholten hatte, weil sie zuviel Zeit auf ihre Gesetzesbücher verwandte und nicht genug auf die religiöse Andacht. Möglicherweise sagte ihr das religiöse Leben nun nicht mehr zu.
Vielleicht war das der wirkliche Grund für ihre Pilgerfahrt - sie wollte sich über ihr Verhältnis zu Gott klarwerden und nicht über ihre Beziehung zu Bruder Eadulf nachdenken? Fidelma wurde plötzlich wütend auf sich selbst und wandte sich abrupt von der Reling fort.
Das große lederne Segel ragte hoch über ihr in den blauen Himmel. Die Mannschaft war weiterhin mit ihren verschiedenen Verrichtungen beschäftigt, doch arbeitete sie nicht mehr so hektisch wie unmittelbar beim Verlassen der geschützten Bucht. Von den anderen Pilgern war immer noch nichts zu sehen. Die beiden jungen Mönche unterhielten sich weiter angeregt. Sie fragte sich, wer sie wohl waren und weshalb sie diese Reise unternahmen. Plagte sie ein ähnlicher Konflikt? Sie lächelte trübselig.
»Ein schöner Tag, Schwester«, rief ihr der Kapitän des Schiffes zu. Er verließ seinen Platz neben den Steuerleuten und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. Als sie an Bord ging, hatte er sie kaum beachtet und sich voll darauf konzentriert, das Schiff in Fahrt zu bringen.
Sie lehnte sich wieder an die Reling und nickte freundlich.
»Wirklich ein schöner Tag.«
»Ich heiße Murchad, Schwester«, stellte er sich vor. »Es tut mir leid, daß ich dich nicht richtig begrüßen konnte, als du an Bord kamst.«
Dem Kapitän der »Ringelgans« sah man an, daß er nichts anderes als ein Seemann sein konnte. Murchad war stämmig und untersetzt, hatte ergrauendes Haar und ein wettergegerbtes Gesicht. Fidelma schätzte ihn auf Ende Vierzig. Seine vorspringende Nase hob den engen Stand seiner meergrauen Augen noch hervor. Sein Mund bildete eine feste Linie. Er hatte den wiegenden Gang aller Seeleute.
»Sind dir schon Seebeine gewachsen?« fragte er mit seiner trockenen, rauhen Stimme, die mehr für Kommandorufe als für höfliche Konversation geeignet war.
Fidelma lächelte.
»Ich glaube, du wirst feststellen, daß ich ganz gut zurechtkomme, Kapitän.«
Murchad lachte skeptisch.
»Ich sag dir meine Meinung, wenn wir das Land außer Sicht haben und auf dem offenen Meer sind«, antwortete er.
»Das ist nicht meine erste Schiffsreise«, versicherte ihm Fidelma.
»Tatsächlich?« Er klang belustigt.
»Ja«, entgegnete sie ernst. »Ich bin nach Alba hinübergefahren und von der Küste Northumbrias nach Gallien.«
»Pah!« Murchad verzog verächtlich das Gesicht, doch in seinen Augen blitzte der Schalk. »Das ist nichts weiter als über einen Teich paddeln. Wir gehen jetzt auf eine richtige Seefahrt.«
»Ist sie länger als die von Northumbria nach Gallien?« Fidelma wußte viel, aber die Entfernungen über See kannte sie noch nicht.
»Wenn wir Glück haben ... wenn«, betonte Murchad, »dann sind wir in einer Woche am Ziel. Das hängt vom Wetter und den Gezeiten ab.«
Fidelma war überrascht.
»Ist das nicht eine lange Zeit ohne Sicht auf Land?« fragte sie vorsichtig.
Murchad schüttelte lächelnd den Kopf.
»Um Himmels willen, nein. Ein paarmal werden wir unterwegs Land sichten. Wir halten uns dicht an der Küste, damit wir uns orientieren können. Zum erstenmal sollten wir morgen früh wieder Land sichten, allerdings nur, wenn wir auf dem ganzen Weg nach Südosten günstigen Wind finden.«
»Und wo wäre das dann? Im Reich der Briten in Cornwall?«
Murchad sah sie anerkennend an.
»In der Geographie weißt du Bescheid, Schwester. Wir berühren aber die Küste von Cornwall nicht. Wir segeln westlich an einer Gruppe von Inseln vorbei, die mehrere Meilen vor der Küste liegen - sie heißen Syli-nancim. Wir legen dort nicht an, sondern segeln weiter, wie ich hoffe, mit günstigem Wind und ruhiger See. Dann wäre das nächste Land, das wir sichten, eine andere Insel namens Ushant, die vor der Küste Galliens liegt. Die sollten wir am nächsten Morgen oder bald danach erreichen. Damit sehen wir zum letztenmal Land für mehrere Tage. Wir nehmen anschließend Kurs genau nach Süden, und so Gott will, erreichen wir die Küste von Iberia, noch bevor die Woche um ist.«
»Nach Iberia innerhalb einer Woche?«
Murchad bestätigte das mit einem Nicken.
»So Gott will«, wiederholte er. »Und wir haben ein gutes Schiff, das uns fährt.« Dabei schlug er mit der Hand auf das Holz der Reling.
Fidelma schaute sich um. Sie hatte sich das Schiff mit besonderem Interesse angesehen, als sie an Bord kam.
»Es ist ein gallisches Schiff, nicht wahr?«
Murchad war etwas überrascht von ihrer Kenntnis.
»Du hast einen scharfen Blick, Schwester.«
»Ich habe ein solches Schiff schon früher einmal gesehen. Ich weiß, daß die starken Planken und die Art der Takelung typisch sind für die Werften von Mor-bihan.«
Murchad sah noch überraschter aus.
»Dann erklärst du mir wohl gleich noch, wer das Schiff gebaut hat«, meinte er trocken.
»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Aber wie gesagt, gesehen habe ich solche Schiffe schon.«
»Nun, du hast recht«, gestand Murchad. »Ich habe es vor zwei Jahren in Kerhostin gekauft. Mein Steuermann .« Er wies auf einen der beiden Männer am Steuerruder, den mit dem finsteren Gesicht: »Das ist Gurvan, mein Steuermann und Stellvertreter hier an Bord. Er ist Bretone und hat die >Ringelgans< mitgebaut. Wir haben auch Leute aus Cornwall und Galicia in der Mannschaft. Die kennen die ganze See von hier bis Iberia.«
»Es ist gut, daß du eine so kundige Mannschaft dabei hast«, bemerkte Fidelma mit trockenem Humor.