»Nun, wie gesagt, wenn wir günstigen Wind haben und den Segen unseres Schutzpatrons, des heiligen Brendan des Seefahrers, dann kann es eine schöne Reise werden.«
Bei der Erwähnung des heiligen Brendan erinnerte sich Fidelma an die anderen Pilger.
»Ich wundere mich, weshalb die meisten anderen Passagiere den besten Teil der Reise versäumen«, meinte sie. »Ich finde, das Auslaufen aus dem Hafen auf die offene See ist immer das Spannendste daran.«
»Vom Standpunkt des Reisenden, hätte ich gedacht, wäre es aufregender, in einen fremden Hafen einzulaufen, als einen bekannten zu verlassen«, erwiderte Murchad. Dann zuckte er die Achseln. »Vielleicht haben deine Mitreisenden nicht so gute Seebeine wie du und die beiden jungen Brüder da drüben.« Er nickte hinüber zu den beiden Mönchen, die immer noch in ihr Gespräch vertieft waren. »Mir scheint allerdings, die beiden jungen Männer merken kaum, daß sie auf einem Schiff sind - anders als manche ihrer Mitbrüder.«
Es dauerte einen Moment, bis Fidelma begriff, worauf er anspielte.
»Sind einige bereits seekrank?«
»Mein Kajütenjunge meint, mindestens zwei. Ich habe schon Pilger gehabt, die selbst bei ruhiger See darum beteten, daß der Tod sie erlösen möge, weil sie so seekrank waren, daß sie es nicht mehr aushalten konnten.« Er grinste bei der Erinnerung. »Ich kannte einen Pilger, der wurde seekrank, sobald er einen Fuß auf das Schiff setzte, und blieb es, auch wenn wir im geschützten Hafen vor Anker lagen. Manchen Menschen gefällt es auf See, und andere sollten lieber an Land bleiben.«
»Was habe ich denn für Mitreisende?« fragte Fidelma.
Murchad sah sie einigermaßen erstaunt an.
»Du kennst sie nicht?«
»Nein. Ich gehöre nicht zu ihrer Gruppe. Ich reise allein.«
»Ich dachte, du kämst aus der Abtei.« Murchad wies mit der Hand auf die weit entfernte Küste hinter ihnen.
»Ich komme aus Cashel - ich bin Fidelma von Cashel. Ich bin gestern am späten Abend in der Abtei angekommen.«
»Na.« Murchad erwog ihre Frage einen Augenblick. »Deine Mitreisenden lassen sich wahrscheinlich als die übliche Schar von Mönchen und Nonnen beschreiben.
Tut mir leid, Schwester, aber durch die Kutte kann man den einzelnen Menschen schlecht erkennen.«
Diesen Standpunkt konnte Fidelma durchaus teilen.
»Sind sie eine gemischte Gruppe, Mönche und Nonnen?«
»Also das kann ich dir genau sagen. Außer dir sind es vier Nonnen und sechs Mönche.«
»Zehn im ganzen?« fragte Fidelma erstaunt. »Das ist eine merkwürdige Zahl. Gewöhnlich reisen doch Pilger in Trupps von zwölf oder dreizehn?«
»So kenne ich das auch. Auf dieser Reise sollten es wohl sechs Nonnen und sechs Mönche sein. Doch man hat mir gesagt, eine Nonne hätte die Reise nach Ardmore nicht geschafft und eine andere sei heute morgen einfach nicht am Kai erschienen. Wir warteten bis zum letzten Moment, aber ein Schiff kann dem Wind und den Gezeiten keine Vorschriften machen. Wir mußten absegeln. Vielleicht hatte die fehlende Nonne es sich anders überlegt. Es ist allerdings merkwürdig, wenn eine Frau diese Pilgerfahrt allein unternimmt«, setzte er forschend hinzu.
Fidelma zuckte fast unmerklich die Schultern.
»Ich kam erst gestern abend in der Abtei des heiligen Declan an und erkundigte mich nach einem Schiff nach Iberia. Der Abt erklärte mir, dein Schiff wolle heute morgen auslaufen, und er glaube, du hättest noch Platz für einen Passagier. Er nahm mich auf und schickte einen Boten aus, der die Überfahrt für mich bestellte. Meine Mitreisenden sind mir in der Abtei nicht begegnet, und ich kenne keinen von ihnen.«
Murchad schaute sie nachdenklich an und rieb sich seine große Nase.
»Es stimmt, daß der Bote des Abts mich gestern abend in Collas Gasthaus aufsuchte und die Überfahrt für dich bestellte.« Er runzelte die Stirn. »Mir fällt auf, daß du eine seltsame Nonne bist, Schwester. Der Abt beherbergt dich und schickt einen Boten für dich aus? Aber wie eine Oberin eures Ordens siehst du auch nicht aus.«
In dieser Feststellung lag zugleich eine Frage.
»Die bin ich auch nicht«, antwortete sie und wünschte, das Thema wäre nicht aufgekommen.
Er betrachtete sie forschend.
»So einen Vorzug zu genießen ist ungewöhnlich.« Er hielt inne, und dann blitzte in seinen scharfen, hellen Augen die Erkenntnis auf. »Fidelma von Cashel? Natürlich!«
Fidelma seufzte resigniert, als sie merkte, daß er von ihr gehört hatte. Doch in der Enge seines Schiffes wäre wohl früher oder später ohnehin bekannt geworden, wer sie war.
»Ich verlasse mich darauf, Murchad, daß du geheimhältst, wer ich bin«, verlangte sie. »Das geht schließlich meine Mitreisenden nichts an.«
Murchad atmete tief durch.
»Daß die Schwester des Königs von Cashel auf meinem Schiff reist? Das ist eine Ehre, Lady, und meine Neugier ist befriedigt.«
Fidelma schüttelte tadelnd den Kopf.
»Schwester«, verbesserte sie ihn scharf. »Ich bin nichts weiter als eine gewöhnliche Nonne auf einer Pilgerfahrt.«
»Nun gut, ich werde dein Geheimnis bewahren. Aber eine Prinzessin und zugleich eine Anwältin in Gestalt einer Nonne, diese Zusammenstellung trifft man selten an. Ich habe die Geschichte gehört, wie du das Königreich gerettet hast ...«
Fidelma hob das Kinn leicht an. Ihre Augen funkelten bedrohlich, als sie erwiderte: »War nicht Brendan auch ein Prinz, und stammte nicht Colmcille aus dem Königshaus der Ui Neill? So ungewöhnlich ist es doch wohl nicht, daß Personen von königlichem Rang dem Glauben dienen? Jedenfalls bleibt dieses Thema unter uns und wird nicht vor den anderen Pilgern besprochen.«
»Ich muß es aber dem Jungen sagen, der dich während der Reise bedient.«
»Es wäre mir lieber, wenn du das nicht tust. Und nun, Kapitän, wolltest du mir etwas über meine Mitreisenden erzählen«, lenkte sie von dem Thema ab, das ihr peinlich war.
»Viel weiß ich nicht über sie«, gestand Murchad. »Sie übernachteten zwar gestern in der Abtei, aber ich glaube nicht, daß sie zu ihr gehören. Ihrem Dialekt nach zu urteilen, kommen die meisten von ihnen - jedenfalls die, die ich gehört habe - aus dem Norden, aus dem Königreich Ulaidh.«
Fidelma wunderte sich.
»Das ist doch ein langer Weg für Pilger aus Ulaidh, wenn sie bis Ardmore wandern und dann erst aufs
Schiff gehen, statt direkt von einem Hafen im Norden abzufahren?«
»Vielleicht.« Murchad schien das nicht zu interessieren. »Als Schiffseigner bin ich froh, wenn ich Passagiere bekomme, ganz gleich aus welchen Gründen. Du hast noch Zeit genug, Lady, sie kennenzulernen und ihre Motive für die Reise zu erfahren.«
Plötzlich blickte er zu den Wimpeln auf, die am Großmast wehten, und beschattete seine Augen.
»Entschuldige, Lady. Ich muß halsen - ich meine, den Kurs des Schiffes ändern -, denn der Wind dreht.« Sie wollte ihn schon rügen, weil er sie mit »Lady« statt mit »Schwester« angeredet hatte, als er fortfuhr: »Wenn du an Deck bleiben willst, geh lieber hinüber zur Leeseite, aus dem Wind raus.« Er bemerkte ihre Ratlosigkeit und zeigte auf die Seite, die dem Wind gegenüberlag, wenn er den Kurs geändert hatte. Der Wind hatte sich überraschend gedreht, seit sie an dem Vorgebirge vorbei auf die offene See herausgekommen waren.
»Wenn es dir recht ist, Kapitän, gehe ich jetzt nach unten und suche meine Kajüte«, antwortete sie.
Er wandte sich um und brüllte so unerwartet los, daß sie zusammenfuhr.
»Wenbrit! Durchsagen, Wenbrit zum Kapitän!« Er schaute sie wieder an. »Ich muß dich für den Augenblick verlassen. Der Junge bringt deine Plünnen nach unten und zeigt dir deine Kajüte, Lady .«
Er drehte sich um, ehe sie ihn fragen konnte, was »Plünnen« bedeutete, und eilte zu den Männern am Steuerruder. Dann brüllte er: »Leinen klar zum Halsen.«