Fer in Northumberlond the wawe hire caste
Geoffrey Chaucer, Canterbury Tales
1.
Die Stadt der Toten lag auf einem langgestreckten Hügel über der Stadt der Lebenden. Jetzt, Ende Februar 1865, waren die Bäume und Büsche kahl, und nur der Nebel entzog Gräber, Grüfte und Mausoleen dem Blick aus dem Tal der Seine. Grau war der Sandstein geworden und mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seit hier der erste Sarg in die Erde gelassen wurde. Siebzigtausend waren ihm seither gefolgt und die Cimetière du Père Lachaise zu einer moosüberwucherten Nekropolis der steinernen Engel, weinenden Statuen, Marmorportale gewachsen, für die es keinen Stadtplan und keine Karte gab.
Es wurde früh dunkel. Ein schlurfender Kirchendiener lief schon seit einer Stunde mit einer Handglocke die breiten Wege ab, um den Besuchern zu verkünden, dass der Friedhof geschlossen würde. Als Letzter, die Friedhofswärter wussten es schon, kam wieder der Engländer. Ein Ahnenforscher, hieß es, und sie lachten über ihn, der selbst im tiefsten Winter, die Hände in fingerlosen Handschuhen, die verstecktesten Pfade abging und auf einem schmutzigen Bogen Papier einzeichnete. Er suchte die ersten, ältesten Gräber, hieß es, und musste deshalb oft dicht an die verwitterten Grabsteine heran, um die von Regen und Zeit ausgewaschenen Buchstaben und Zahlen entziffern zu können. Einmal war eine Grabplatte unter ihm eingebrochen, und er konnte von Glück sagen, dass man seine Schreie gehört und ihn zwischen den Knochen herausgesammelt hatte, ehe die Nacht und die Kälte kamen.
Der Engländer war ein kleines, verhutzeltes Männchen, schlecht rasiert und ernährt, der in den Kleidern, die er den ganzen Winter hindurch und offenbar auch schon lange vorher getragen hatte, beinahe selbst aussah wie eine der alten Leichen, die er so eifrig aufsuchte. Die schmiedeeisernen Tore schlugen hinter ihm zu, ein riesiger Schlüssel drehte sich jaulend im Schloss. Wieder ein Tag.
Er ging langsam den Hügel hinunter, überlegte, ob er sich heute eine Droschke leisten sollte, und entschied sich dann dagegen. Nach anderthalbstündigem Fußmarsch quer durch die riesige Stadt erreichte er, am Ende doch jämmerlich durchgefroren, sein Quartier. Die Concierge, eine dumme junge Person mit großen Brüsten und kleinem Kopf, begrüßte ihn, ehe er im zugigen Treppenhaus an ihrem Fenster vorbeihuschen konnte.
»Ah, Monsieur! Sie hatten Besuch.« Sie sagte es so strahlend wie jemand, der froh ist, eine erfreuliche Mitteilung weiterzugeben, und tatsächlich hatte die Concierge sich gefreut, als Monsieur Jacqueson heute Besuch bekam. Er hatte noch nie Besuch bekommen in den zwölf Monaten, die er jetzt oben im spärlich beheizten Dachgeschoss wohnte. Zeitweise war er ihr schon ein wenig unheimlich vorgekommen in seiner Absonderlichkeit, denn sie las mit Hingabe die Mord-und Schauergeschichten in den fliegenden Blättern.
»Besuch?«, fragte er jetzt, als hätte er sie nicht richtig verstanden. Sein Französisch war manchmal komisch, aber immer sehr schlecht. »Besuch für mich?« Seine Augen flackerten unruhig. »Wo? Wann? Wer?«
»Oh, ein Mann, ein Freund«, sagte sie nicht mehr ganz so strahlend. »Heute Nachmittag. Er kennt Sie, er weiß Ihren Namen!« Sie dachte jetzt selber an einen Polizisten.
»Wo? Wo ist er?«, fragte Jackson zitternd vor Kälte und drehte sich suchend um, bevor sie noch antworten konnte.
»Er ist wieder fortgegangen, ich soll Sie grüßen. Morgen früh um acht wird er Sie aufsuchen.«
»Morgen!«, sagte Jackson, und sein Mund öffnete sich mehrmals. Sein Atem strich kalt über ihr Gesicht, als er jetzt ganz nahe herankam. »Sicher? Ist er sicher fort? Er ist nicht mehr da?!« Als er sah, dass er der jungen Frau Angst machte, verzog er den Mund zu einem hässlichen Grinsen. »O ja, morgen. Ein guter Freund, ja. Vielen Dank.«
2.
Eine Entführung war es jedenfalls nicht.
John Gowers war in den letzten drei Tagen und Nächten viel gelaufen, um das herauszufinden. Jetzt, als er es wusste, zog er zuerst seine Stiefel aus, noch ehe er die Tür hinter sich abschloss. Der Himmel über New York war dunkel wie blaue Tinte und würde bald schwarz sein.
Gowers ließ die Beute des Tages auf den Schreibtisch fallen und öffnete das einzige Fenster seines Büros, machte aber kein Licht. Er zog den Vorhang zurück, der den Raum teilte; den größeren Teil zum Arbeits-und Empfangsraum für Klienten, den kleineren zu Schlafzimmer und Küche machte – wenn man es denn so nennen wollte. Ohne hinzusehen, nahm er ein Glas aus dem Regal, das sein gesamtes Küchenmobiliar darstellte, goss Wasser aus einer von mehreren Feldflaschen hinein und verzog den Mund schon beim ersten Schluck. Er überlegte kurz, wann er das Wasser abgefüllt hatte, kam aber nicht darauf. Die Flasche jedenfalls stammte aus einem anderen Jahrzehnt und hatte noch die alten Bleinähte. Es schmeckte entsprechend.
Gowers ging zu seinem Schreibtisch, nahm eine halb volle Flasche Rum heraus und schüttete, den Daumen auf der Öffnung, ein paar Tropfen in die bleierne Flüssigkeit. Anschließend leckte er genussvoll den Daumen ab und stand eine Weile am offenen Fenster.
Hoch über den Dächern kreisten schnarrend ein paar hundert schwarze Vögel, losgerissene kleine Fetzen der Nacht, die langsam über die Stadt kroch. Ihr heiseres Schreien mochte ein Streit über die Schlafbäume sein, die sie aufsuchen würden. Nach Brooklyn hinüber – nein, über die Bucht – Staten Island, der Nacht entgegen – desto schneller ist sie vorbei – in den Park, Central Park, wozu ist der sonst gut?
Gowers achtete nicht auf den Ausgang der Sache. Die Vögel verschwanden oder wurden von der Dunkelheit ausgelöscht. Obwohl man im Zimmer jetzt nichts mehr sehen konnte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, ohne Licht anzuzünden. Er legte beide Füße auf den Tisch und spürte den Nachtwind durch die Löcher in seinen Socken. Die Kälte sagte ihm, dass auch der Spätsommer vorbei war. Zielsicher angelte er nach einer Zigarrenkiste in der untersten Schublade und seufzte schon in der Vorfreude. Wie hatte Lincoln es formuliert? Eine Zigarre ist ein länglicher Gegenstand mit einem Feuer am einen und einem Narren am anderen Ende. Es ist gut, in Amerika zu sein, dachte Gowers. Die Verfassung garantierte jedem Mann das Recht, sich aus freiem Willen zum Narren zu machen.
Er drehte die echte Havanna, den einzigen Luxus, den er sich gönnte, erst lange unter der Nase, schnüffelte ausgiebig daran. Aber als er das Zündholz am Stuhlbein anriss, arbeitete er schon wieder. Im Licht der kleinen Flamme sah Gowers sich noch einmal die reichlich pornografische Aufnahme an, die das Ergebnis seiner Ermittlungen war. Das Gesicht der jungen Frau, die über ihre Schulter hinweg in die Kamera lächelte und dabei ihr nacktes Hinterteil einem schlaksigen jungen Mann entgegenreckte. Unter seinem Nachthemd ragte eine Erektion hervor, die dem Betrachter unwillkürlich ein beeindrucktes Stirnrunzeln entlockte.
3.
Das Zündholz erlosch zwischen seinen Fingern, verbrannte sie, und Gowers fühlte den Schmerz beißender, als ihm lieb war. Früher hatte er mehr ausgehalten. Über sich selbst enttäuscht, leckte er an seinen Fingerspitzen und blies kurz, aber scharf darüber. Dann widmete er sich wieder seiner Zigarre und seinem Fall.
Es war eine hundsmiserable Calotypie, grobkörnig und grau verwaschen. Aber trotzdem und auch ohne Lupe konnte man es ohne Zweifel erkennen: Das Mädchen war Caroline Blandon. Wer der junge Mann war, wusste Gowers dagegen nicht, noch nicht; er hätte es herausfinden können. Aber es war auch eigentlich ziemlich egal. An jeder Straßenecke gab es abgedankte Soldaten, und vermutlich hatte Tingle dem Jungen nicht einmal Geld geben müssen. Man musste einem gesunden jungen Mann nicht extra Geld anbieten, um ein so schönes Mädchen wie Caroline Blandon zu vögeln. Und sei es auch vor dem gläsernen Auge einer alten Mousetrap.
Tingle hatte versichert, dass dieser Abzug der einzige sei; aber Gowers war sicher, dass es noch eine ganze Menge anderer Bilder mit der kleinen Blandon im Mittelpunkt geben würde. Das war aber überhaupt nicht sein Problem.