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Er ging noch eine Weile an Deck umher, denn er fühlte, wie die Nachtluft seinen Kopf wunderbar klar machte. Was, wenn er in New York von Bord ginge? Wenn er es endlich aufgäbe, hinter sich ließe, noch einmal ein neues Leben begänne? Aber dann war ihm wieder, als sähe er auf den Decksplanken eine kleine Gestalt umherstapfen, das Gespenst eines toten Mannes, das ihm in der alten, vertrauten Sprache noch einmal sein Geheimnis ins Ohr raunte.

Gefährlich? Tödlich? Es war immer gefährlich gewesen, auch tödlich, schon als es nur eine Geschichte war und sogar ehe er selbst sie kannte. Gott allein wusste, wie viele Menschen dafür gestorben waren, es konnten Hunderttausende sein. Der Schiffskoch hatte wieder das Gefühl, auf der Spitze eines Berges zu stehen – eines Berges von Toten, deren Erbe er war. Er ließ sich neben dem Schanzkleid nieder, um nachzudenken, und erwachte, weil ein breiter Schatten auf ihn fiel, der dunkler war als die mondlose Nacht. Er fuhr hoch und hoffte, es sei nur ein scheußlicher Traum, aber dann hörte er wieder die Stimme, die ihn zu Beginn der Reise an Bord der Northumberland begrüßt hatte.

»Nun, alter Freund!«

Da wusste der Schiffskoch, dass er nicht mehr schlief.

»Böse Sache mit Thompson«, fuhr die Stimme fort. »Jackson und Turner sind auch hin.«

Der Koch zitterte, die Wachen waren weit achtern. Er hatte von Jackson gehört, nur ein Gerücht, und es hatte ihn nicht abgehalten. Dass auch der fröhliche, etwas feige, sommersprossige Leutnant tot war, erfuhr er erst jetzt.

»Wir sind die Letzten«, sagte die Stimme. »Übrig geblieben, nur noch wir beide!«

Der Franzose nickte zitternd, schluckte, wollte etwas sagen, als das Seltsame geschah. Der Schatten wich von ihm, drehte sich um, und ein hochgewachsener Mann, aber eben nur noch ein Mann, trat an die Reling und schaute aufs Meer hinaus.

»Nur noch wir beide, Louis. Und die See!«, murmelte er gedankenverloren und reichte dem Koch eine halb volle Flasche mit Rum, die er aus einer seiner weiten Manteltaschen nahm. Louis trank einen Schluck und wollte die Flasche zurückgeben, aber der Mann hatte ihm schon wieder den Rücken zugedreht.

»Erzähl mir noch einmal die ganze Geschichte«, sagte er und vertiefte sich in einen Horizont, den man nicht sah.

23.

Für jemanden, der auf einer Insel geboren wurde, hatte er sich zeitlebens nur wenig für Schiffe interessiert. Sie waren bestenfalls geräumige, selten bequeme Beförderungsmittel für Menschen und Material, und der Wind, der sie antrieb, war kostenlos. Aber damit waren auch schon all ihre Vorteile genannt.

Da lag man bei Sonnenschein in Sichtweite einer grünen Küste, konnte beinahe hinüberspucken, und ein fassbäuchiger Kapitän erklärte, dass man leider noch etwa zwei Tage gegen den ablandigen Wind kreuzen oder einen halben Tag auf die Flut warten müsse, um an Land zu kommen! Vor allem diese Abhängigkeit von den blinden Naturkräften hatte ihn an Schiffen von jeher gestört. Erst jetzt, 1815, im letzten europäischen Hafen, den er je sehen würde, fiel ihm auf, dass sie schön waren.

Er hatte – wo war das gewesen, in Madrid? Dresden? am Wiener Hof? – ein paar Gemälde der alten flämischen Meister gesehen. Seestücke, Schiffe mit geblähten Segeln unter dräuendem schwarzem Gewölk, triumphale Ausfahrten mit wehenden Flaggen oder stille Hafenszenen, ganze Wälder von Masten in Abendlicht getaucht. Sie hatten ihm nichts gesagt. Gemälde, auf denen keine Personen zu sehen waren, langweilten ihn, wie ihn eine Welt ohne Menschen gelangweilt hätte.

Aber der Anblick dieses Hafens mit den riesigen britischen Linienschiffen, den Prisen – erbeuteten französischen Fregatten, Brigantinen, Korvetten –, den kleineren Handelsschonern, vorüberziehenden Kuttern, den hin und her jagenden Gigs, faszinierte ihn. Die verschiedenen Arten der Takelung, die unterschiedlichen Nationalitäten, die Flaggensignale von Schiff zu Schiff waren wohl ein Gemälde wert. Und auf diesem Gemälde wäre sogar ein Mensch zu sehen, dachte er befriedigt. Nicht in Person, sondern als Anlass für all dieses Gewimmel; so wie ein Feldherr in den Bewegungen, Manövern einer nach Tausenden zählenden Armee deutlich zu erkennen war. Denn all diese Schiffe, sagte er sich, waren seinetwegen hier.

Er hatte alles geduldig ertragen, die Durchsuchung seines Gepäcks, ja sogar seiner Wäsche. Es hatte ihn ein bisschen amüsiert, denn dort war ohnehin nichts zu holen. Dreitausend Louisdor hatte man die Engländer finden lassen, damit sie zufrieden waren. Aber er hatte zweihundertfünfzigtausend Francs in Gold unter seine Leute verteilt, soweit er wusste, war es in den Gürteln versteckt. Außerdem Wechselbriefe und Wertpapiere. Die Diamanten trugen die Frauen am Körper verborgen.

Der englische Admiral behandelte ihn wie einen Gleichgestellten, achtete aber doch peinlich genau darauf, den Dreispitz in seiner Gegenwart nicht länger als unbedingt nötig zu lüften. Es war eine grimmige Freude, ihn dabei zu beobachten. Wie er errötete, wenn er eine Sekunde zu lange barhäuptig dastand, vor all seinen Männern. Vierhundert Seeleuten, zwei Kompanien des 53. Infanterieregiments, den Offizieren, englischen und französischen. Dazu drei Ärzte, zwei Dolmetscher, ein Pfarrer.

Es waren tausendundachtzig Menschen an Bord, einschließlich der Passagiere. Und alle, alle, vom Schiffsjungen bis zum Admiral, hielten ihn für eine Art Menschenfresser, für einen Teufel in Menschengestalt. Zu seiner Einschiffung waren sogar etliche Parlamentsmitglieder angereist und hatten ihn angestarrt wie ein Raubtier im Käfig. Vae Victis!1

Die Unterbringung war natürlich empörend, eine Kabine von zwölf Quadratmetern, den Salon musste er mit den Offizieren teilen, mit dem Admiral und dem Kommandanten zu Abend essen. Unter Deck sah es angeblich noch schlimmer aus; Madame Bertrand musste neben einer Kanone schlafen und vertrug die Seereise überhaupt schlechter als alle anderen.

Bertrand sprang hinauf und hinunter; die Kinder, zwei Jungen, ein Mädchen, liefen auf Deck den Matrosen durch die Beine und waren bald mit allen gut Freund, was vielleicht daran lag, dass die englischen Midshipmen selbst fast noch Kinder waren, die wenigsten über zwanzig Jahre.

Zuletzt ein bemerkenswertes und grausiges Schauspiel, als er den Hafen verließ, um nie mehr zurückzukehren: Eines der Begleitschiffe, die Havannah, Ceylon, Bukephalus, Zenobie, Zephyr, Redpole, Ikarus, Ferret oder Peruvian, hatte eine Barke gerammt, die sich zu dicht an die Northumberland herangewagt hatte. An Bord eine Frau, ein Kind, ein Diener. Sie war fast augenblicklich gesunken, untergegangen wie ein Stein. Die Boote retteten Mutter und Kind, der Diener blieb verschwunden.

Kommandant Roß, Admiral Cockburn tobten: Warum sie so nahe herangekommen sei? Lebensmüde, wie? Verrückt, was? Und die Frau, nurmehr ein Medusenhaupt in durchnässten Kleidern, das Kind mit weit aufgerissenen Augen starrten ihn an, und die Schiffbrüchige sagte schließlich in all ihrer Jämmerlichkeit: Sie habe einmal im Leben den Kaiser sehen wollen!

Cockburn, der zufällig seinen Hut abgesetzt hatte, um sich die Stirn zu wischen, setzte ihn augenblicklich wieder auf, straffte sich und schnarrte: »Es gibt an Bord dieses Schiffes keinen Kaiser. Es gibt nur den Kriegsgefangenen General Bonaparte !«

Quod erat demonstrandum2, dachte Napoleon und zeigte mit keiner Miene, was angesichts solchen Elends in ihm vorging.