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24.

Das Kind wurde am Tyne gezeugt. Nicht etwa metaphorisch »am Tyne«, also in einer bestimmten Landschaft Englands. Nicht »in einem kleinen Dorf am Tyne«, nicht in einem Haus, einer Kate. Noch nicht einmal in einem Gebüsch, sondern tatsächlich am Fluss selbst. Auf einer etwas verschlammten Sandbank auf der inneren Seite einer Flussbiegung, die trockenen Fußes gar nicht zu erreichen war. Und wahrscheinlich sofort bei ihrer ersten Begegnung.

Genau genommen war Jane dem Schotten schon zwei-oder dreimal im Dorf begegnet, beim dritten Mal auch schon nicht mehr zufällig, aber er hatte sie nicht beachtet. Für sie allerdings waren seine Größe, sein widerspenstiges schwarzes Haar, seine kräftigen großen Hände und vor allem seine Art zu gehen, die so bedächtig, beständig und sicher war, wie ein Fluss fließt, Grund genug, ein bisschen die Ohren zu spitzen.

Und so sammelte Jane in erstaunlich kurzer Zeit erstaunlich viele Informationen. Aus Quellen, die nur siebzehnjährige Mädchen kennen. Aus einem flüchtigen Wort, einer Anekdote, Andeutung, den Antworten auf Fragen nach ganz anderen Dingen.

John Williams aus Skye. Ein Assistent des verrückten Ingenieurs aus Dunbar. Dort Kohlehauer gewesen, hier auch, aber jetzt einer der Spezialisten für Tiefen, die man in Old Benwell noch gar nicht laut auszusprechen wagte. Angeblich weiter in der Erde gewesen als je ein Mann vor ihm.

Das war Jane zu riskant, zu abenteuerlich. Sie hatte zu viele Witwen gesehen, die noch kein Jahr über die zwanzig waren. Mädchen, die noch mit ihr gespielt hatten, dann Kinder bekamen und jetzt Schwarz trugen und leer geweinte Augen hatten. Und wandte sich lieber wieder ihren Büchern zu und den Briefen, die sie auf ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters mit einigen Theologiestudenten in Edinburgh austauschte. Und denen an Barbara Branning in Liverpool, ihre beste Freundin aus fernen Kindertagen.

Dann kamen der Sommer und der Staub. Der schwarze Staub, der über den Kohlengruben aufstieg und den nicht nur die Bergleute, sondern auch die Frauen und Kinder des Landes am Tyne in ihren Haaren trugen. Den die keuschesten, ältesten Jungfrauen noch manchmal an ihrem Leib fanden. Der die Luft schwängerte, den die Säuglinge von den Brüsten der Mütter tranken.

Es war an so einem staubschwangeren Tag, Nachmittag, an dem Jane den Schotten am Fluss sah. An einer Stelle, die sie in ihrer Mädchenfantasie bisher »ihre Stelle« genannt hatte, weil sie in früheren Sommern dort häufig gelesen hatte, bis ihr die Augen zufielen. Und sie erst unter ihrem Buch erwachte, wenn die Sonne unterging oder der Wind an ihrer Haut leckte.

An diesem Tag ging kein Wind.

John Williams aus Skye war aus der Erde gestiegen, heraufgezogen worden an einem Drahtseil, das auf einer Winde lief. Die anderen Bergleute wurden noch immer an Hanfseilen oder Ketten hinab-und heraufgezogen in die Tiefe und aus der Tiefe. Aber der Schotte war viel tiefer gewesen, hatte weit unter dem Deckgebirge gestanden. Hier stockte die Bohrung. Man würde sprengen müssen.

Er war schmutzig, aber nicht schwarz vom Staub wie die Hauer. Deshalb war er auch nicht nach Hause gegangen, in das halbe Zimmer, das er als Kostgänger im Haus eines Steigers bewohnte. Er war grübelnd weit über den Rand des Dorfs hinausgegangen, bis an den Fluss, der hier eine Biegung nach Süden machte.

Ohne sich großartig umzusehen, eben wie ein Hauer unter der Erde, legte er seine Kleider ab und sprang nackt in das Wasser des Tyne, das sauberer aussah, als es war. Er schwamm eine kurze Strecke, tauchte, schaufelte sich Wasser über Kopf und Glieder, wusch den Schweiß ab und lag dann lang ausgestreckt auf einer Sandbank, nackt in der Sonne – während Jane Gowers im Schutz niedriger Bäume rot wurde, nicht weglief noch wegschaute, aber nachher ihr Buch vergaß.

Sie träumte von dem, was sie gesehen hatte. Sehr wild. Den sehnigen Armen, den langen Beinen, den schmalen, festen, sehr weißen Hinterbacken, dem muskulösen Rücken, der Brust, dem Bauch, den kleinen runden Hoden und dem kräftigen Glied.

All das war durchaus nicht neu für sie. Jane war so aufgeklärt, wie es ein siebzehnjähriges Mädchen mit fünf älteren Schwestern nur sein kann. Sie wusste, was Männer und Frauen taten, sie hatte nackte Männer auf Bildern gesehen, auf Stichen nach Caravaggio, Raffael, Michelangelo. Sie hatte sogar heimlich Ovid gelesen, mühsam alles aus dem Lateinischen übersetzt. Aber einige Vokabeln fand sie in keinem Wörterbuch, und ihren Vater konnte sie ja schlecht fragen.

Sie hatte allerdings nie einen jungen Mann nackt im Fluss gesehen, die glänzende weiße Haut in der Sonne, das Spiel der Muskeln, die funkelnden Tropfen, wenn er den Kopf schüttelte, die wilde Behaarung der Brust, der Geschlechtsteile, die dunklere Haut dort.

Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen. Seine Gestalt ist wie der Libanon, auserwählt wie Zedern.

Jane wollte von da an jedes Risiko eingehen.

25.

Sie hatte noch einmal Rousseau gelesen und einige Stellen bei Thomas Morus. Und für sich längst eine Entscheidung getroffen. Sie wusste, was sie tun würde. Es fehlte nur noch der Tag. Aber der Sommer wurde älter, seine Farben verblassten, seine Früchte wurden schwer. Und Jane ging zum Fluss.

Fände ich dich draußen, so wollte ich dich küssen, und niemand dürfte mich schelten.

Ihre Nächte waren sehr lang und wärmer als ihre Tage. Ihre Träume so heftig und schön, dass sie manchmal das Bett kaum verlassen wollte. Nur alle Nachmittage verbrachte sie am Fluss, an ihrer, an seiner Stelle.

Hätte sie auf ihre Mutter gehört an diesem Tag, es wäre überhaupt nichts geschehen. Die schaute nach Norden, in einen nur noch blassblauen Himmel, und sagte: »In Schottland regnet es schon.«

Aber Jane ging trotzdem zum Fluss, und diesmal sah sie den Schotten schon von Weitem. Er ging vor ihr, fünfzig, hundert Meter, und er drehte sich nicht um. Überall, wo das möglich war, wo John Williams es unmöglich merken konnte, an Wegbiegungen oder Gebüschen, rannte Jane, so schnell sie konnte, und holte tatsächlich auf. Und am Fluss, ihrer Stelle, seiner Stelle, starrte der Mann aus Skye diesmal eine Weile ins Wasser, grübelte über Gesteinsschichten, Sprengladungen, ehe er seine Jacke auszog.

Da war Jane schon nahe genug, um unauffällig ein bisschen Lärm zu machen, streifte hier einen Ast, trat dort ein Grasbüschel nieder, bis John Williams sie bemerkte. Sie lächelte ihm zu, er nickte nur wortlos, fast blicklos.

Wahrhaftig keine Sprengladung, nur ein Mädchen aus dem Dorf, zu jung, zu klein, zu dünn. Nur eine Nase, die wirklich ins Auge stach. Und er wollte schon weggehen, als sie anfing, sich äußerst merkwürdig zu verhalten. Sie zog zuerst ihre Schuhe aus.

Verglichen mit einem Gaul, den niemand kauft, ehe nicht der Sattel losgeschnallt ist und alle Decken weggenommen sind, gehen die Briten bei der Wahl einer Ehefrau so leichtfertig zu Werke, dass sie sich über die ganze Frau ein Urteil bilden, von der sie nur eine Handbreit gesehen haben.

Das hatte er gestohlen, der Lordkanzler. Alle Welt, vor allem die Nachwelt, hatte Thomas Morus für diesen obszönen Gedanken gescholten, dabei war er gar nicht von ihm. Chaucer schrieb es, in den Canterbury Tales, hundertfünfzig Jahre früher, und Jane wusste es, wusste es schon mit siebzehn.

Sie wird ihre Füße baden wollen, dachte John Williams, aber warum starrt sie mich dabei so komisch an?

Es sollte entschlossen wirken. Er sollte wissen, dass nun er eine Entscheidung zu treffen hatte. Jane zog ihren Rock aus, dann ihre Bluse.

In Utopia lässt eine ehrbare Hausfrau den Bewerber die Jungfrau nackt sehen, und ein rechtschaffener Mann stellt auch dem Mädchen den Freier nackt vor, sodass nachher niemand sagen kann, er sei betrogen worden.