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Nach zwei Minuten legte Merriwell eine weitere Pfundnote auf den Tisch und sagte: »Ich erhöhe um drei Minuten!« Gedämpftes Gelächter, aber der Kaufmann wusste genau, was er tat. Erhöhte noch einmal um zwei, dann um drei Minuten, während der schweigsame Bell und die Infanterieoffiziere einer nach dem anderen ausstiegen.

John Gowers las tatsächlich nicht, er benutzte Kolumnen, Zeilen und Überschriften als grafische Elemente. Es war eine einfache Gedächtnisübung: Jeder Artikel war eine Frage, jeder Satz eine Antwort, jedes Wort eine Information. Er beherrschte dieses System im Schlaf und hatte auf diese Weise alle ihm bekannten Fakten eines Falls ausgebreitet vor Augen, ohne sich auch nur eine einzige Notiz zu machen.

Um sich Gesichter, Namen, Räume, Wege, Zahlen einzuprägen, benutzte er andere Schemata, meistens den großen Fluss, den er als Lotse befahren hatte und dessen Points3, Snags4, Sandbänke, Uferlinien, Stromschnellen und Inseln ihm bei Tag und bei Nacht, flussaufwärts, flussabwärts, bei Hoch-und Niedrigwasser auf den Meter genau sagten, wo er sich befand. Oft aber auch die lullschen Gedächtnisscheiben, weil sie beliebige Kombinationen der Dinge ermöglichten, ohne den Überblick zu verlieren. Je nach Sachlage aber auch Ableitungsbäume: Wer kennt wen, wer weiß was – und welche Folgen hat das?

Nach exakt zehn Minuten und dreißig Sekunden legte er die Zeitung beiseite, drückte seine Zigarre aus und erhob sich. Eden und Merriwell konnten sich acht Pfund teilen.

»Ach, Mr. Thompson«, rief der nicht erbberechtigte Lord, »was gibt’s denn so Neues?«

»Napoleon serviert Bismarck in Biarritz die Österreicher auf einem goldenen Teller, die Juaristen sind im Vormarsch, Francis Train kandidiert als Präsident, und ein Generalmajor Burtlock ist wegen Mordes hingerichtet worden. Aber das ist natürlich alles schon wieder Geschichte! Gute Nacht, Gentlemen.«

Eden versank in missmutige Grübelei. Auch Edward Bell sah dem seltsamen Mr. Thompson nachdenklich hinterher, aber der hatte die Tür noch nicht geschlossen, da stürzte sich der feiste Kaufmann auch schon mit einer ganz erstaunlichen Geschwindigkeit auf die Zeitung, ließ sie nach wenigen Sekunden wieder sinken und sagte: »Sie schulden mir sechzehn, Mylord!«

28.

Ein Gedächtnis wie ein Elefant zu haben, hatte schon seine Mutter dem kleinen Jungen bescheinigt, und stets war das mehr Vorwurf als nüchterne Feststellung oder gar Kompliment gewesen. Etwas von Dickkopf, Sturheit, Unversöhnlichkeit schwang darin mit, und tatsächlich fiel es dem Investigator noch heute schwer, insbesondere Beleidigungen oder Streitigkeiten zu vergessen. Verzeihen vielleicht. Vergessen nie.

Als er, damals im Eis, verwundet und mehr aus Verzweiflung, angefangen hatte, sich mit der Ars Memorativa, dem künstlichen Gedächtnis, zu beschäftigen, die ersten Gedächtnistraktate las, hatte er das Ganze zuerst für eine Art mechanisches Spielzeug fantasieloser Geister gehalten. Trocken und langweilig wie der Herrnhuter Missionar, der ihm die Traktate zu lesen gab und der dabei doch ein bemerkenswert guter Jäger war, der beste an Bord.

Aufeinanderfolgende Räume sollte man sich denken oder anders zusammenhängende Orte, an denen man seine Gedanken in logischer Folge ablegt, sodass der Erinnerungsvorgang nachher so kontrolliert abläuft wie der Weg durch ein gut bekanntes Gebäude. Cicero hatte angeblich in den Gerichtssälen, in denen er sprach, Gegenstände – Speer, Schild, Schwert und was die alten Römer so hatten – an die Wände gehängt, die ihn an seine Argumente und ihre Abfolge erinnern sollten.

Gedächtnisräume! Gedächtnisorte! Ein so verstandenes Gedächtnis war ihm vorgekommen wie ein Setzkasten für Ordnungsfanatiker. Ein gutes Erinnerungsvermögen funktionierte auch ohne diese Schubladensysteme, und ein schlechtes wurde dadurch so wenig verbessert, wie eine geschmacklose Wohnung durch pedantisches Aufräumen schöner wird.

Erst nach und nach erkannte er das Spielzeug als Werkzeug, kam ihm die Erkenntnis, dass Erinnerung nichts ist, was man hat, sondern etwas, das man erzeugt, hervorbringt. Das Gedächtnis war weder eine gemütliche Rumpelkammer noch ein wohlsortiertes Archiv, es war eine Leinwand, auf der der Geist seine Bilder entwarf. Und wo der gewesene Affe nur mit beiden Pfoten in die Farbtöpfe seiner Wahrnehmungen, Eindrücke und Empfindungen langen konnte, da bot die Gedächtniskunst der Fantasie Farbskala, Raster und einen sicheren Halt. Das erkennend fing John Gowers an, Welten zu erschaffen. Parallelwelten, gewesene, zukünftige, mögliche.

Irgendwann reichte sein Gedächtnis nicht nur nach rückwärts, umfasste nicht nur die relativ witzlose Betrachtung des immer bereits Vergangenen, sondern berücksichtigte alle oder doch möglichst viele der in den Dingen liegenden Möglichkeiten. Und paradoxerweise schien ihm das der Wirklichkeit angemessener zu sein. Die Welt war nicht, sie wurde, pausenlos. Deshalb war eine Orientierung über den wahren Zustand der Dinge in Wirklichkeit eine Orientierung über ihren Vorgang. So bekam er schließlich einen Begriff von der Welle, über die seine Mutter gesprochen hatte, an ihren schlechteren Tagen, den dunkleren Stunden: die Welle, die alles ist und alles davonträgt, sogar sich selbst. Mit seiner Gedächtniskunst glaubte John Gowers, sie fassen zu können.

29.

Als der Investigator in die Kabine kam, schlief Emmeline schon seit Stunden. Es gehörte zu ihrer stillen Übereinkunft, dass er ihr beim Zubettgehen den Vortritt ließ, dennoch würde man diesen Bruder-und-Schwester-Zustand nicht mehr lange aufrechterhalten können.

Er merkte, dass sie unter seiner nächtlichen Anwesenheit litt, und obwohl sie sich tagsüber nach Möglichkeit aus dem Weg gingen, zerrten ihre zweifelnden Blicke allmählich an seinen Nerven. Er wusste, wann ein Mensch sich fragt, ob er einen Fehler gemacht hat. Und dass es dann nur noch eine Frage der Zeit war, bis böse Worte fielen.

Gowers überlegte, wie sinnvoll es wohl wäre, ihr seine bisherigen Ergebnisse mitzuteilen. Wenn sie aber damit gleich in Charleston wieder zur Polizei liefe, um die Geschichte von diesem unmöglichen Selbstmord zu erzählen, wäre nicht nur seine Seereise vorbei, sondern auch die ganze Ermittlung für die Katz; keine Chance mehr, den wirklichen Sachverhalt aufzuklären. Denn bisher wusste er nur, was nicht geschehen war.

Im trüben Licht der Kerze, die er entzündet hatte, zog er Rock und Stiefel aus. Als er sich zu den Kojen umdrehte, sah er, dass Emmeline sich aufgedeckt hatte, sah ihr nacktes Bein, das Nachthemd, das bis zum Schenkel hochgerutscht war. Und obwohl sie noch immer eine nur durchschnittliche Schönheit war, spielte er doch mit mehr als dem Gedanken, sie fürsorglich wieder zuzudecken. Dann schüttelte er aber kurzentschlossen den Kopf, blies die Kerze aus und weckte sie dadurch, dass er ihren Fuß berührte, als er in die obere Koje stieg.

»Können Sie nicht ein bisschen vorsichtiger sein!«, murmelte Emmeline und drehte sich zur Wand, die Decke wieder fest um den Leib gezogen.

»Entschuldigung«, sagte Gowers, zog im Liegen seine Hose aus und legte sie zusammengerollt unter seinen Kopf.

»Sie haben geraucht!«, kam es missbilligend-müde von unten.

»Gute Nacht!«, sagte Gowers und ging mit geschlossenen Augen noch einmal durch, was nicht geschehen war.

Er war auf Deck auf und ab gegangen und hatte sich vorgestellt, Samuel Thompson zu sein. Lebensmüde bis dorthinaus und entschlossen, heute Nacht ein Ende zu machen.

Als ehemaliger Corporal der Artillerie konnte er eigentlich kaum dumm sein, Kanoniere müssen zumindest rechnen können. Einem Kavalleristen in gleicher Lage hätte man jedenfalls eher zutrauen können, zwecks Selbsttötung erst mal zwölf Meter in die Takelage zu klettern. Unterwegs seine Brille zu verlieren, halb blind auf der Großrah zu hocken und sich in aller Ruhe und Albernheit den Strick um den Hals zu legen.