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Sie würden mit Männern kämpfen müssen, die in den höheren Stollen lagen und nicht hinauskonnten. Kämpfen müssen um ihre drei Leitern, in der immer dichteren Luft. Denn die Luft im Schacht würde zusammengepresst werden vom Druck des dort unten gurgelnden Wassers. Ihre Brustkörbe würden sich immer schneller heben und senken, die Lungen immer verzweifelter pumpen, aber ihre Bewegungen würden langsamer, mühsamer werden. Ihre Lampen würden verlöschen, und sie würden keine Chance haben.

Oben schrie der Dampf es ins Tal hinaus, die Glocken verbreiteten die Nachricht von Dorf zu Dorf, von Grube zu Grube. Frauen stürzten herbei, einige stumm, andere heulend wie Klageweiber, sammelten sich am Schacht. Tapfere Männer stiegen hinab, bis auf dreihundert Meter, und kamen schmutzig, nass, hoffnungslos wieder herauf, fanden den Grund nicht mehr. Nur Wasser und Schlamm, den ganzen Berg in Bewegung.

»Sie säuft ab!«, sagten sie, blass vor Entsetzen. Einige weinten, andere schwiegen, alle wussten, was unter ihren Füßen, tief in der Erde geschah. Nur Jane Williams schrie auch dann noch nach Rettung und Hilfe, als die anderen Frauen nur noch für einen schnellen Tod beteten.

32.

Die Quartierf rage war komplizierter als erwartet, da das Offizierskorps der 16. Füsiliere die herrenlosen Kabinen der ersten Klasse auf den achteren Decks von der Flanke her angegriffen hatte und das eroberte Gebiet nun besetzt hielt. Leutnant Carver hatte sich zwar auffallend freundlich um Gowers’ Unterbringung bemüht, war aber an der Dickfelligkeit seiner Kameraden gescheitert.

Einer machte den merkwürdigen Vorschlag, er, Carver, könne ja mit Mr. Thompson tauschen, aber erst als der Leutnant tatsächlich Anstalten machte, »Miss Thompsons Bruder« seinen eigenen Platz anzubieten und mit einer Hängematte in die Mannschaftsquartiere auf den vorderen und mittleren Decks umzuziehen, hatte der Quartiermeister ein Einsehen. In der letzten freien Kabine achtern, reserviert für einen Arzt von Charleston nach Kapstadt, wäre womöglich eine Koje frei – vorausgesetzt, Thompson würde sich mit diesem Herrn einigen können.

Da man Charleston noch nicht erreicht hatte, war das zumindest eine Übergangslösung, die Emmeline und Gowers unabhängig voneinander erleichtert begrüßten. Außerdem hatte der Investigator diese Gelegenheit genutzt, die Passagierliste der Northumberland in eines seiner Gedächtnissysteme zu prägen.

Doktor Francis Marcellus Van Helmont erwies sich als ein etwa fünfzigjähriger Mann mittlerer Größe mit ungeheuer klaren, fast himmelblauen Augen, die nur wenig zu seinen grauen, hier und da sogar schon weißen Haaren passten. Die steilen Falten, die neben beiden Nasenflügeln begannen und sich irgendwo im Dickicht eines hingebungsvoll gepflegten Barts verliefen, wirkten allerdings wie frisch gezogen und deuteten entweder auf ein akutes Magenleiden oder diverse, noch nicht allzu lange zurückliegende Erlebnisse, die mit nervlicher Anspannung verbunden gewesen sein mussten. Dazu kam ein leichtes Humpeln, vermutlich von einer Kriegsverletzung. Und da war noch etwas.

Es gibt Menschen, die man belügen kann, die meisten eigentlich und in allem. Es gibt aber auch Menschen, die jede Lüge erkennen, als könnten sie sie riechen. Manche machen etwas aus dieser Gabe, andere wissen nicht einmal, dass sie sie haben. Und die einen wie die anderen wurden von John Gowers heiß beneidet, der diese Fähigkeit, diesen Instinkt, schon aus beruflichen Gründen verzweifelt gern besessen hätte. Ihm war allerdings nur gegeben, solche Menschen auf den ersten Blick zu erkennen, und deshalb wusste er, dass er Francis Van Helmont nicht belügen konnte.

Der Arzt war zunächst nicht begeistert von Gowers, denn im Gegensatz zu diesem etwas abgerissenen Yankee reiste er mit seiner gesamten Habe, diversen Koffern und Kisten sowie einer aberwitzig großen Truhe voller Bücher, schon beinahe ein Sarg. Zur Verärgerung des Quartiermeisters wollte er dieses Gepäck nicht im Frachtraum unterbringen, sondern in seiner eigenen Welt weiterleben, auch wenn sie verdammt eng würde.

Tatsächlich sah die Kabine aus wie ein überquellendes Magazin, standen Kisten und Kästen bis an die Decke gestapelt, und der Arzt meinte wenig diplomatisch: »Sieht so aus, als würden Sie wieder zu Ihrer Schwester ziehen!«

Gowers wartete mit seiner Antwort, bis alles verstaut war und sie allein waren.

»Miss Thompson ist nicht meine Schwester, Doktor Van Helmont.«

»Ah«, sagte der Arzt und zog rasch ein paar falsche Schlüsse. »Dann sollte es Ihnen ein Leichtes sein, sich wieder mit der jungen Dame zu versöhnen und die Reise in angenehmerer Gesellschaft zu verbringen als ausgerechnet in meiner.«

»Sie ist nicht meine Verlobte, und ich habe sie auch nicht entführt.«

»Hm.« Van Helmonts Augen funkelten zum ersten Mal ein wenig belustigt. »Hat sie Sie entführt?«

Gowers lachte. »Streng genommen ja. Mein Name ist John Gowers, Investigator.«

»Was?«

»Privatdetektiv. Miss Thompson hat mich engagiert, um den Mord an ihrem Vater aufzuklären. Inkognito, Sie verstehen.«

»Nein, noch nicht ganz.«

Er verstand es allerdings nach einer Viertelstunde und einer ersten gemeinsamen Zigarre. Jedenfalls sagte er: »Nun, ich nehme nicht an, dass ich das alles hier an Bord überprüfen kann.«

»Ich würde Sie jedenfalls bitten, das nicht zu tun. Es gehört zum Wesen einer Inkognito-Untersuchung, dass niemand weiß, dass er untersucht wird. Allenfalls könnten Sie mit Miss Thompson sprechen.«

Van Helmont winkte ab, wobei er gleichzeitig den gläsernen Aschenbecher benutzte, den Gowers in der Messe hatte mitgehen lassen.

»Schon gut, Mr. Wie-immer-Sie-heißen. Immerhin ist es möglich, dass eine gute Geschichte daraus wird.«

33.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Van Helmont erhob sich von seiner Büchertruhe, die gleich nach dem Einräumen der Kabine zum Sitzmöbel umfunktioniert worden war, und öffnete.

»Besuch für Sie, Mr. Thompson!«

Es war Leutnant Carver, der schüchtern zur Tür hereinlächelte, dabei aber so nervös von einem Bein aufs andere stieg, als hätte er einen Mord zu gestehen. »Darf ich Sie kurz sprechen, Mr. Thompson?«

»Nur herein«, sagte Gowers.

»Unter vier Augen, wenn möglich!« Der Leutnant sah kurz zu Van Helmont, der wieder auf seiner Kiste Platz genommen hatte und auch keine Anstalten machte aufzustehen.

»Oh, tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Gowers und stellte die Herren vor: »Leutnant Carver – Doktor Van Helmont.«

»Es ist aber persönlich«, beharrte der rotohrige Leutnant. »Nur für Sie bestimmt, Sir!«

Einen Moment lang dachte Gowers, es hätte vielleicht mit dem Fall zu tun. Das jungenhaft offene Gesicht des ungefähr zwanzigjährigen Offiziers sprach allerdings gegen diese Annahme. Ein Blick auf Van Helmont sagte ihm außerdem, dass er immer noch aus der Kabine hinausfliegen könnte.

»Na kommen Sie, alter Junge«, sagte er deshalb, »Doktor Van Helmont ist mein Arzt. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm, und ich möchte ihm auch nicht das Gefühl geben, ich hätte welche. Was haben Sie auf dem Herzen?«

Van Helmont grinste und schien genau zu wissen, dass er eingewickelt werden sollte. Irritiert wegen dieses Grinsens und noch immer sehr verlegen, kam Leutnant Carver endlich in die Kabine und allmählich sogar zur Sache.

»Nun ja. Ich sehe, dass Sie sich schon … äh!« Er wollte sagen: … eingerichtet haben, vergaß es aber angesichts der drohenden Kistengebirge und Kofferschluchten schnell und vollständig. Er nahm die Mütze ab.

»Was ich Sie fragen wollte, Thompson … Also, es geht um Ihre Schwester, Miss Emmeline. Ich weiß natürlich, dass sie einen schweren Verlust erlitten hat. Und Sie natürlich auch. Ich weiß auch, dass es vielleicht noch zu früh ist. Sie sollten aber wissen, dass ich schon kurz davor stand, Ihren Vater, Ihren seligen Vater, äh … dasselbe zu fragen.«