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Dann wissen wir ja jetzt alle allerhand, hätte Gowers beinahe gesagt, während der Doktor wegsah, um den verstümmelten Rest seiner Zigarre zu beseitigen und es dem jungen Mann ein wenig leichter zu machen. Abgesehen von all seinen Problemen mit dem Fall, seiner Unterbringung und nun auch noch dem Gespräch mit Carver, dachte Gowers sofort darüber nach, ob und wie er den Zigarrenstummel in einem unbeobachteten Moment in seine Blechkiste bekommen könnte.

»Kurz und gut«, fuhr der verlegene Leutnant fort. »Ich bitte Sie um … um die Erlaubnis, Ihrer Schwester den Hof machen zu dürfen!«

Der Investigator, der nun wirklich nicht damit gerechnet hatte, jemals über Emmeline Thompsons Glück zu entscheiden, überlegte nach der ersten Verblüffung, welche Ermittlungsvorteile ihm dieser unerwartete persönliche Machtgewinn verschaffen könnte, und bedauerte, für diese Überlegung so wenig Zeit zu haben. Van Helmont schien auch das zu bemerken.

»Nun, Leutnant Carver«, mischte sich der Arzt jedenfalls ein und warf einen kurzen, aber vielsagenden Blick auf Gowers, »Mr. Thompson hier ist vielleicht noch nicht erfahren genug in solchen Dingen. Darf ich mir deshalb, als langjähriger Freund der Familie, die Frage erlauben, ob Sie über ein gesichertes Einkommen verfügen? Feste Bezüge? Wie hoch ist Ihr Sold, Sir? Können Sie Emme… Miss Thompson überhaupt eine Zukunft bieten?«

Gowers nickte zuerst dem Arzt und dann dem Besucher zu. Carver kannte natürlich seine gesamte Truppe, konnte eventuell auch Kontakte zu den Schiffsoffizieren herstellen – und das wäre ein bisschen Hofmachen schon wert. Auf die Höhe der Soldzahlungen in der britischen Indienarmee, Carvers Protektion durch einen Onkel im Generalsrang und andere Kleinigkeiten hörte Gowers dagegen nur mit halbem Ohr.

Erst als der Leutnant schon wieder eine Weile den Mund hielt und nach einem auffordernden Blick Van Helmonts fiel dem Investigator noch die allseits erwartete Frage ein: »Nun, Carver, alter Junge, Sie wissen natürlich, dass ich Ihnen durchaus wohlwollend gegenüberstehe. Aber sagen Sie noch eins: Ihre Familie. Ich nehme nicht an, dass Ihre Leute von diesem … diesem Vorhaben wissen. Wie werden sie sich dazu stellen?«

Leutnant Carver konnte den Bruder seiner potenziell Angebeteten auch in dieser Hinsicht vollkommen beruhigen, brachte Gowers’ Selbstsicherheit dann aber mit einer abschließenden Frage gefährlich ins Wanken.

»Wenn ich Sie dann vielleicht noch nach der Höhe der Mitgift fragen darf, lieber Thompson?«

Van Helmont konnte ein hervorquellendes Gelächter gerade noch als kleinen Hustenanfall tarnen und krächzte: »Eine mehr als berechtigte Frage!«

Aber Gowers hatte sich schon wieder gefangen. »Nun, dazu kann ich natürlich nicht allzu viel sagen, Carver. Ich bin schon zu lange aus England weg. Es dürfte Sie aber interessieren, dass Emmeline die Alleinerbin unseres Vaters ist. Vater und ich, wir sind … wir waren … einander sehr fremd, sehr fremd geworden. Man könnte fast sagen: Wir kannten uns eigentlich nicht.«

»Das betrübt mich zu hören, Thompson, betrübt mich außerordentlich«, sagte Carver hocherfreut. »Dann darfich mich wohl empfehlen?!«

»Auf Wiedersehen, junger Mann«, sagte Van Helmont. »Und: hipp, hipp, wenn ich so sagen darf !«

»Danke, Sir!«, sagte ein sichtlich beglückter und plötzlich sehr viel selbstbewussterer Leutnant und zog in die Schlacht seines Lebens. Nicht, ohne sich an der Tür ordentlich den Kopf zu stoßen.

Van Helmont grinste ihm hinterher. »Wie schon gesagt, ich mag gute Geschichten!«

34.

Auf der Höhe von Guinea schlief der Wind ein, und an die Stelle der Seekrankheit, an der zuletzt auch der Kaiser gelitten hatte, trat die Langeweile, für die sehr bald das Gleiche galt. Cockburn sandte ein Schiff des Geschwaders an die afrikanische Küste, die man von den Mastspitzen der Northumberland aus eben noch ausmachen konnte, um Obst und frisches Wasser aufzunehmen.

Die Mannschaft vertrieb sich die Zeit des tagelangen Treibens, Kreisens und Wartens mit der Jagd auf Haie. Napoleon höchstpersönlich schaute zu, wie sie einen dieser Räuber aus der Tiefe zogen und an Deck hievten.

Das riesige Tier, fast fünf Meter lang, kämpfte, seines ureigensten Elements beraubt, doch noch unglaublich zäh um sein Leben; wand sich, schlug mit der Schwanzflosse mehrere Matrosen zu Boden und hätte auch beinahe den Kaiser verletzt, der näher herantrat, während ein Rudel siebzehn-, achtzehnjähriger Knaben mit Messern und Enterhaken auf das Tier einstach. Fast wäre er mit den zierlichen Escarpins im Blut dieses Königs der Meere ausgerutscht, und es spritzte so sehr, dass er die Strümpfe wechseln musste.

Währenddessen schnitt man dem toten Hai den Bauch auf und fand in seinem Magen die noch erkennbaren Überreste eines schwarzen Männerarms mit der dazugehörigen Hand, an der auch mit wenig Fantasie Kettenspuren auszumachen waren. Madame Bertrand, nach langer Seekrankheit zum ersten Mal wieder an Deck, übergab sich vor all den Männern und wurde anschließend für zwei Wochen von niemandem mehr gesehen.

Innerhalb weniger Minuten wusste das ganze Schiff, was man da Schauriges im Meer gefunden und ihm inzwischen wiedergegeben hatte. Selbst Napoleon sprach beim Abendessen darüber.

»Die Sklavenschiffe werfen manchmal hier ihre Toten über Bord«, erklärte Kapitän Roß.

»Manchmal auch Lebende, habe ich mir sagen lassen«, entgegnete Montholon, »wenn sie überladen sind oder aus anderen Gründen leichtern müssen.«

»Nun, aber die sind dann wohl gefesselt, jedenfalls solange man noch so dicht unter der Küste ist. Haie sind außerdem Aasfresser. Ich denke, dieser Neger war tot«, beharrte der Kapitän.

Napoleon war fasziniert, mehr von seiner eigenen Fantasie als vom Sachverhalt. »Haie sind vor allem Raubfische«, sagte er. »Ich präferiere deshalb, auch im Namen des Hais, die Vorstellung von einem Mann, der versucht hat, seine Freiheit zurückzugewinnen, und kämpfend starb. Wie weit ist es bis zur afrikanischen Küste?«

Roß tauschte einen säuerlichen Blick mit dem Admiral, obwohl es wohl kaum als Geheimnisverrat gelten konnte, eine Frage zu beantworten, die auch jeder halbwegs erfahrene Seemann unter den Franzosen hätte beantworten können.

»Etwa fünfzehn Meilen, Sir. Schwer zu glauben, dass das zu schaffen ist oder dass jemand auch nur den Versuch macht.«

»Nun«, sagte der Kaiser, »was zu schaffen ist, weiß man meistens erst, wenn man es versucht hat. Und glauben werden es die Leute sowieso immer erst hinterher.«

Später, als er an Deck beinahe ausgestreckt auf einer Kanone der Steuerbordbatterie lag, die die Matrosen bereits heimlich Napoleons Kanone nannten, sah er in die immer fremder werdenden Sterne des Südens und dachte an Afrika, sein Afrika, an Ägypten. So hatte er als junger General Bonaparte an Bord der Orient gelegen, Nelsons gesamte Flotte hinter sich und die Welt vor sich.

Währenddessen machte Admiral Cockburn lächerliche Versuche, bei den französischen Bediensteten unauffällig herauszubekommen, ob Napoleon schwimmen konnte.

35.

An der gleichen Stelle an Deck der Northumberland stand wenig über fünfzig Jahre später der amerikanische Arzt Francis Marcellus Van Helmont, einen anderen, größeren verlorenen Krieg hinter sich, eine ungewisse Zukunft in den Burenkolonien am Kap Afrikas vor sich.

Das Schiff fuhr auf den Spuren seiner Väter, nur in umgekehrter Richtung. Sein Urgroßvater war einst aus Breda auf die niederländischen Antillen ausgewandert, sein Großvater hatte dort als Pflanzer ein Vermögen gemacht, sein Vater hatte es durchgebracht und ihn, den Letzten seines Namens, mit der Tochter eines amerikanischen Plantagenbesitzers im Süden Alabamas gezeugt, für den er als Verwalter arbeitete. Er erinnerte sich an seine Mutter wie an eine ferne Königin, auf einem Besitz, der nicht ganz, aber immerhin halb so groß war wie Holland.