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Sein Problem war, dass er diese Aufnahme Senator Gordon Fitzgerald Blandon zeigen musste, der den Hintern seiner Tochter vermutlich zuletzt vor fünfzehn Jahren auf dem obligatorischen Bärenfell gesehen hatte. Im Büro war jetzt nur noch das regelmäßige Aufglühen der Zigarrenspitze zu erkennen, und insbesondere die Sorglosigkeit, mit der Gowers die Asche in den längst nicht mehr sichtbaren Eimer am Boden schnippte, hätte jede Hausfrau mit äußerstem Argwohn erfüllt. Tatsächlich ging aber kein Stäubchen daneben, auch wenn das beim Zustand des Büros ziemlich egal gewesen wäre.

John Gowers war nicht reich, er hatte keine einflussreichen Freunde, keine Familie, hatte keinen besonderen Ruf, er genoss keine politische Protektion. Wenn ein US-Senator, Tammany-Mann, ein enger Freund von Mr. Fünfzehn Prozent, William Macy »Boss« Tweed, einen kleinen Investigator, einen Straßenköter wie ihn damit beauftragte, seine verschwundene Tochter aufzutreiben, konnte das nur eins bedeuten: Der Mann wollte die Sache nicht an die große Glocke hängen. Oder noch genauer: Der Mann fürchtete das öffentliche Interesse wie der Teufel das Weihwasser. Dass er weder die Stadtpolizei noch das Heer der Spitzel und Zuträger benutzt hatte, über die Tammany Hall verfügte, sagte dem Investigator noch mehr. Vermutlich wusste nicht einmal ein halbes Dutzend Leute, dass Caroline überhaupt verschwunden war.

Weiß Gott, alles wäre einfacher, wenn es eine Entführung gewesen wäre! Gowers hätte das Mädchen gefunden, Papa Blandon wäre begeistert gewesen, die Bezahlung nur eine Formsache. Jetzt stimmte leider nur der erste Teiclass="underline" Gowers hatte das Mädchen aufgetrieben. Aber wie begeistert würde der Senator von den näheren Umständen sein? Von schmutzigen Fotos, die irgendwann, irgendwie auch seinen feinen Freunden vom Americus-Club vor die stets gierigen Augen kommen würden? Wie es ihm beibringen?

»Ja, Mr. Blandon, Ihre Tochter ist am Leben. Ja, sie hat sogar ziemlich viel Spaß daran … Sehen Sie selbst!«

Gowers musste unwillkürlich lachen, als er sich die Szene vorstellte. Dann dachte er an das Schicksal, das die Überbringer schlechter Botschaften von jeher zu treffen pflegte, und konzentrierte sich wieder auf den Rest seiner Zigarre. Er spürte schon die Hitze an seinen Lippen, als er die Glut vorsichtig mit zwei Fingern abknipste. Den schäbigen Stummel verstaute er in einer Blechkiste, die bereits halb gefüllt mit schwarz angekokelten, trockenen Tabakresten auf der Fensterbank zum Himmel stank. Daneben lag eine Pfeife.

4.

Jackson stieg hastig die vier steilen Treppen hoch und geriet dabei außer Atem. Sein Herz klopfte merkwürdig kalt in der plötzlich zu engen Brust. Sie hatten ihn gefunden, einer von ihnen! Er wusste nicht, wie, er wusste nicht, wer, aber einer von ihnen hatte herausgefunden, wo er war und was er tat. War es Turner? Mit Turner hatte er manchmal darüber gesprochen, aber mit wem mochte seinerseits Turner geredet haben? Sollte er auf den geheimnisvollen Besucher warten? Vernünftig mit ihm reden? Aber womöglich verlangte der andere dann Auskunft darüber, wie weit er gekommen war bei seiner Suche.

Die Uhr zeigte gerade neun. Elf Stunden. Nein, er würde Paris verlassen, mit dem ersten Zug. Er würde nach Marseille gehen, in die Richtung, die niemand erwarten konnte.

Mit fahrigen Händen entzündete er das Gaslicht und goss dann einen Schluck Branntwein in das Glas, das er neben der Flasche auf dem Tisch stehen gelassen hatte. Eine kleine Pfütze war noch vom Morgen darin. Anschließend begann er, seine wenigen Sachen zu packen, trat an den Kleiderschrank und holte eine Hutschachtel heraus, seinen Schatz. Kaum hatte er ihn in den Händen, wurde er ruhiger.

Er stellte Flasche und Glas auf den Boden und entfaltete auf dem Tisch den großen, sehr sauber gearbeiteten Plan, den er aus der Hutschachtel genommen hatte; einen Plan des Friedhofs Père Lachaise, die geduldige Arbeit der letzten zwölf Monate. Er war sehr stolz auf sein Werk. Auch die kleinsten Wege waren eingezeichnet und Tausende von Gräbern, oft ganze Gräberfelder nur durch ein rechteckiges Kästchen markiert, in das dann ein kleines V, wie ein Haken, eingezeichnet war.

Es war keine leichte Arbeit gewesen. Wichtig waren die Grabstätten, die mit Namen und Jahreszahlen verzeichnet waren, denn das waren die, die er suchte: die ältesten, sämtlich vor dem 8. Juli 1815 angelegt. Andere interessierten ihn nicht. Durch Dickicht und Dornen hatte er sich hindurchgewunden, um die Daten zu sammeln.

Elf Stunden! Das war viel Zeit. Eigentlich konnte er die Gräber und Grüfte, die er heute erkundet hatte, noch in seinen Plan eintragen. Er ging zu seinem Mantel, holte den vom Nebel und seiner Körperwärme noch klammen Bogen Papier heraus und begann mit der Ruhe, die nur eine oft und mit Geschick ausgeübte Tätigkeit vermittelt, seinen Plan vom Père Lachaise weiter zu vervollständigen.

Kein Geräusch schreckte ihn auf, keine Angst trieb ihn um, er war ganz bei sich. Und als er nach drei Stunden fertig war, aufstand und die vom Schreiben verkrampften Finger lockerte, lief er in den Bereich der seidenen Schlinge, wie eine Fliege im Netz einer Spinne landet. Ahnungslos, weich, ohne Todesangst, nur zutiefst verwundert. Dabei stand die Spinne schon lange hinter ihm, reglos, ein wenig belustigt.

Als die Schlinge sich zuzog, zuerst wie ein Lufthauch, ein weiches Gefühl am Hals, ächzte der kleine Mann überrascht. Dann zappelte er heftig, wehrte sich. Aber der Mörder war riesig, oder er stand auf einem Stuhl. Mühelos hob er sein Opfer hoch, das noch um sich schlug und mit den Beinen strampelte, als es den Boden unter den Füßen verlor. Ein letzter schwacher Hieb traf nur den Hut des Mörders, der auf dem Boden einmal um sich selbst kreiselte und das Letzte war, was die hervorquellenden Augen des Opfers wahrnahmen.

Der Mörder, der das rechte Bein schlurfend nachzog, ging zum rückwärtigen Fenster, öffnete es und blickte hinaus in die Nacht und die enge, unbeleuchtete Gasse weit unten. Er entfernte das Seidentuch, das tief in den Hals des Toten eingeschnitten hatte, und warf den kleinen Ahnenforscher dann vier Stockwerke hinab, mit dem Kopf voran, sodass mit ein wenig Glück Schädel und Hals brechen würden. Anschließend prüfte er fachmännisch den Plan der Cimetière du Père Lachaise und hob anerkennend die Augenbrauen, ehe er ihn zusammenfaltete und einsteckte.

»Gute Arbeit!«, lobte eine belustigte Stimme den kleinen Mann, der es tief unten auf dem Pflaster nicht mehr hören konnte.

5.

»Eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte Gowers. »Die gute: Ihre Tochter lebt und ist gesund. Die schlechte: Sie ist in unangenehme Gesellschaft geraten. Schmutzige Geschäfte …«

Er händigte dem Senator die bewusste Aufnahme aus und sah taktvoll aus dem Fenster, während sein Klient sie aufmerksam betrachtete. Gowers hörte das langsame Ausatmen des beleibten Mannes, dann zu seiner Bestürzung, wie etwas bedächtig zerrissen wurde. Der Investigator drehte sich wieder zu Blandon um, sammelte die Teile der Calotypie im Ascheimer ein und hielt wortlos ein Zündholz darunter. Langsam löste sich die Schande der Blandons in Rauch auf.

»Wollen Sie die Adresse Ihrer Tochter auf einem gesonderten Blatt?« Noch mehr Entgegenkommen war nicht möglich.

»Das ist nicht meine Tochter, Mr. Gowers. Eine gewisse Ähnlichkeit, ja, aber … Ein Mann in meiner Position kennt solche Menschen nicht.«

Gowers spürte die Bedrohung, die von dieser Antwort ausging. Aber er brauchte auch Geld.

Mit einem verkniffenen Lächeln erhob sich der Senator und sagte: »Da werden Sie wohl weiter nach Caroline suchen müssen.«

Der Investigator warf einen ironischen Seitenblick auf das Häufchen Asche, das von Caroline Blandon übrig geblieben war, und stellte langsam die entscheidende Frage: »Und darf ich mir erlauben, Ihnen meine bisherigen Bemühungen in Rechnung zu stellen, Sir?«