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39.

»Ja?«

»Guten Tag, Vater.«

»Was willst du?«

»Mein Mann ist gestorben«, begann Jane. »Er ist im Berg verschüttet worden.«

Zur Hölle gefahren oder doch in ihre unmittelbare Nähe, dachte Joseph Gowers in einem Teil seiner Seele, den er selbst auf der Folter verleugnet hätte. Er hatte sich die näheren Umstände mehrmals ausführlich erzählen lassen.

»Ich habe davon gehört.«

»Ich möchte Unterricht geben, um Geld zu verdienen für den kleinen Joseph und mich.«

Sie wollte ihm zeigen, dass sie keinesfalls vorhatte, ihn um Geld zu bitten oder sich unter sein Dach zu flüchten, aber vielleicht war gerade das falsch. Vielleicht wäre er zugänglicher gewesen, wenn sie reumütig um Gnade und Vergebung ihrer Schuld gebeten hätte. Stolz hingegen konnte er an keiner seiner Töchter leiden, an den anderen allerdings auch nur sehr selten entdecken.

In aller christlichen Demut hätte er akzeptiert, wenn sie seine Knie umfasst, sein Füße gewaschen und Maria Magdalena irgendwie erwähnt hätte. Davor hatte er sogar insgeheim Angst gehabt, denn dann wäre es ja an ihm gewesen, eine christliche Regung zu zeigen. So aber konnte er ihren Vorschlag, ihr hin und wieder einige Bücher aus seiner Bibliothek leihweise zur Verfügung zu stellen, damit sie den wertlosen Bälgern der Bergarbeiter Lesen und Schreiben beibringen könnte, brüsk zurück-und sie selbst mit ihrem schottischen Bastard aus dem Haus weisen.

Und erst lange nachher, als er sich wieder einmal über die Unarten der frühen englischen Literatur aufzuregen beschloss, fand er hinter Shakespeares Werken das entsprechende Buch nicht mehr. Zuerst schoss ihm das Blut heiß ins Gesicht, denn er befürchtete, es nach der letzten Lektüre gedankenlos irgendwo liegen gelassen zu haben, sodass die Abgründe seiner Seele für jedermann oder irgendwen offen zutage traten.

Erst nach einer ausführlichen, aber erfolglosen Suchaktion, bei der er schließlich das ganze Zimmer auf den Kopf stellte, keimte in ihm der Verdacht auf, eine von Lots Töchtern oder gar sein gottloses Weib könnte das Buch entwendet haben und sich heimlich an seinen Schweinereien ergötzen. Jedenfalls nahm er die sporadischen Äußerungen seiner Lieben, dass er sich nicht so in die Bücher hineingraben solle, die er früher stets mit patriarchalischem Wohlwollen wie Huldigungen entgegengenommen hatte, plötzlich sehr ungnädig auf.

Tatsächlich ließ ihn die Vorstellung nicht mehr los, irgendjemand in der Familie wisse mehr über seine literarischen Vorlieben, als dem Ansehen eines Hirten seiner Herde zuträglich war, und mache sich vielleicht sogar über ihn lustig. Natürlich konnte er mit keiner Menschenseele über seinen Verlust reden, denn was man nicht besitzen darf, kann einem auch nicht gestohlen werden. Das Quälendste aber war, dass man nun sogar nach seinem Tod Dinge über ihn wissen würde, die er im Leben niemandem gestanden hatte.

Je älter er wurde, desto größer war in der Tat Bens Vergnügen, wenn er sich die kopfschüttelnde Erregung des ehrwürdigen Joseph B. Gowers bei der Lektüre des Miller’s Tale oder vergleichbarer Erzählungen ausmalte. Mitleid konnte er allerdings nicht für seinen derart gequälten Vorfahren empfinden, denn von dieser ersten Bibliothek seines Lebens erinnerte er zwar die respektheischend knarrenden Dielen, die Furcht einflößende Höhe der Regale, an denen Generationen geschnitzt zu haben schienen, und die versammelte Würde einer dickleibigen, ledergebundenen Bildung, aber vor allem eben den Zeigefinger des selbstgerechten alten Mannes, der ihm die Tür dieser Welt wies.

Und Ben Williams war froh, dass er keine andere Erinnerung an seinen Großvater hatte.

40.

Ermittlungsarbeit war das Sammeln, Ordnen und Interpretieren von Informationen und insofern wissenschaftlicher Forschung durchaus vergleichbar. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass Wissenschaftler nur in Ausnahmefällen befürchten mussten, ihr Forschungsgegenstand werde aufspringen, eine Hieb-, Stich-oder Schusswaffe auf sie richten oder ihnen sonst wie kräftig eins über den Schädel geben. Diese einigermaßen erheiternde Vorstellung – jedenfalls wenn man dabei nicht an Afrikareisende, sondern Insekten-oder Bibelforscher dachte – nutzte der Investigator immer noch hin und wieder, um innerlich den manchmal spöttischen, meist aber nur blasierten Blicken zu begegnen, die ihn bei seinen Recherchen in Bibliotheken und Archiven irgendwann zu treffen pflegten.

Zwar hatte ihn seine Mutter Respekt vor dem geschriebenen Wort gelehrt, zwar hatte er sich selbst in Jahren und Jahren eines fast wütenden Bücherverschlingens eine erstaunlich profunde Bildung angeeignet, aber noch immer überfiel ihn jenseits der Pforten von Universitäten, Lehr-und Lesesälen das alte Gefühl, die Welt seiner Feinde zu betreten. Gelehrsamkeit in Goldschnitt und Folio starrte feindselig auf ihn herab, und blasse Menschen mit engen Kragen und fingerdicken Brillengläsern schienen mit jeder Regung zu fragen, was er hier suchte – der Kajütjunge mit den roten, vom Scheuersand rissigen Händen, der braun gebrannte, bezopfte Seemann, Arktisfahrer, Flusslotse, der nach einem Übermaß von Sonne und Tabak roch, der verwundete Captain der Nordarmee in seiner fadenscheinigen Uniform, der zwielichtige Ermittler mit dem Messer im Stiefel.

Früher waren es zuverlässig die Vorstellung von Gewalt und der Gedanke gewesen, dort jederzeit alles und jedermann zu Brei schlagen zu können, die ihm bei Bibliotheksrecherchen seine Gemütsruhe erhalten hatten. Inzwischen war es vor allem die Erfahrung, dass bisweilen ein einziges hingemurmeltes Wort noch des schäbigsten Informanten wertvoller für ihn war als zehn Regalmeter enzyklopädischen Weltwissens. Auch das war die Welle. Sie machte das Große klein, unwichtig und hob das Niedrige, Zufällige für einen einzigen funkelnden Augenblick ins Licht der Unverzichtbarkeit.

41.

»Tag, Mr. Thompson, Sir. Mein Name ist Barclay, George Barclay, ich komm wegen der Zigarre!«

»Bist du nicht noch ein bisschen zu jung dafür?«, fragte Gowers, obwohl er wusste, dass der Junge diese Frage hassen würde. Er selbst hatte es jedenfalls immer gehasst, zu jung für dieses oder jenes genannt zu werden. Tatsächlich war George Barclay auch kein wirklicher Junge mehr, sicher schon vierzehn, vielleicht fünfzehn. Und groß für sein Alter.

»Kann sein, Sir«, sagte er auch prompt etwas frech, »aber ich hatte sowieso vor, sie zu verkaufen.«

Gowers lächelte. »Wie wär’s, wenn du mir ein bisschen was erzählst und hinterher zwei verkaufst?«

»Das wär prima, Sir«, sagte George, ergänzte dann aber wie verlegen: »Ich weiß aber gar nicht so viel. Die anderen haben ihn losgemacht, ich hab ihn nur runter an Deck gehoben, nur geholfen dabei.«

»War das schwer?«

»Na ja, leicht war er nicht. Aber Pullman und Gore haben ihn abgeseilt, Hand über Hand runtergelassen, ich musste ihn eigentlich nur abnehmen. Und manchmal, wenn er irgendwo hakte … festhing … Ich meine nicht am Hals, wenn er festhing mit Armen und Beinen, so in der Takelage, dann hab ich ihn losgemacht.«

Bei den schüchternen Bemühungen des Schiffsjungen, den unwürdigen Vorgang möglichst taktvoll zusammenzufassen, hatte Gowers Schwierigkeiten, die betroffene Miene des trauernden Sohns beizubehalten.

»Gut«, sagte er deshalb. »Das ist für eine Zigarre gut.«

»Danke, Sir«, sagte George und nahm die Zigarre mit viel größerer Selbstverständlichkeit entgegen als seine wesentlich älteren Kameraden. Entweder konnte er sich gar nichts darunter vorstellen, oder er hatte schon mehr von derlei Luxus gesehen, als man ihm anmerkte. Lächelnd wartete er auf die angebotene zweite.