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Gegenüber, im ehemaligen Wohn-und Empfangsraum der Flottenchefs, residierte der dritte Lord Eden, links und rechts den Gang hinunter der dicke Merriwell, der verstorbene Gouverneur von St. Helena beziehungsweise seine Tochter und einige britische Offiziere. Es war, verglichen jedenfalls mit den Kabinen im zweiten Achterdeck, der in jeder Hinsicht beste Teil des Schiffs.

Von den merkwürdigen Indern hatte sich bislang allerdings nicht mehr als ein einzelner Diener regelmäßig gezeigt. Der war zwar ein höchst eindrucksvoller Mann, fast zwei Meter groß und dabei dünn wie ein Stock, sprach allerdings kein Wort Englisch oder tat jedenfalls sehr gekonnt so. Immer in düsterer, schweigender Würde, auch wenn er das Kochgeschirr ausspülte, die Nachttöpfe leerte oder Wasser holte, hatte Gowers über diesen Mann noch nicht mehr herausgefunden als das, was er instinktiv spürte: dass er viel gefährlicher war, als er aussah, eigentlich mehr ein Leibwächter als ein Diener. Die mysteriöse Eintragung im Quartierbuch: Mrs. M. W. und Begleitung, von Portsmouth nach Bombay, trug vielleicht zu diesem Eindruck bei, vielleicht aber auch nur seine nach zwei Wochen fruchtloser Investigation überreizte Fantasie.

Seine einzige wirkliche Spur blieb Louis Vivés, und der lag mittlerweile in einem Delirium, aus dem er höchstwahrscheinlich nicht wieder auftauchen würde. Das war zumindest Van Helmonts Meinung, der sich bereitwillig von Gowers auf den Kranken hatte ansetzen lassen. Ansonsten war die Northumberland leider nicht New York, und abgesehen von den unregelmäßigen und mit Vorsicht zu genie-ßenden Nachrichten, die George Barclay ihm verschaffte, konnte der Investigator auf keinerlei Unterstützung durch Informanten, Journalisten und befreundete oder gekaufte Polizisten zurückgreifen.

Und da war noch etwas, das John Gowers immer stärker bedrückte.

Er war in Nassau in einem Bordell gewesen, aber es hatte ihm statt der erhofften Erleichterung nur neue Schwierigkeiten eingebracht. Dabei war es ein durchaus stilvolles Etablissement gewesen, keine Hinterzimmer in einer Hafenkneipe. Hatte auch nicht wenig gekostet, obwohl die Preise im Vergleich zu New York erträglich waren. Auch das Mädchen war überraschend hübsch, eine Mulattin, neunzehn, zwanzig Jahre vielleicht. Ein bezauberndes Lächeln, eine wundervolle Haut und eine Figur, wie man sie sich für dieses Geschäft nur wünschen konnte.

Aber sie sträubte sich lange, sich völlig auszuziehen und ansehen zu lassen, was sich Gowers als erfahrener Bordellbesucher zum Prinzip gemacht hatte. Nicht nur aus Gründen der Vorfreude oder des Genusses – obwohl er gerade die schönen Huren genoss wie Weine; kostete, nippte, schaute, sich nie sinnlos betrank. Auch, weil bestimmte Ansteckungserkrankungen sehr weit verbreitet, aber ebenso leicht zu erkennen waren.

Die Mulattin etwa würde in zwei oder drei Jahren keine Nase mehr haben, und dieses Schicksal konnte sich Gowers durch seine ausführliche Visitation ersparen. Nicht ersparen konnte er sich die Frustration, eine so schöne Landschaft gewissermaßen ausgebreitet vor sich zu sehen und sie nicht betreten zu dürfen. Dabei konnte er seine eigene Lust inzwischen schon riechen – oder bildete sich das zumindest ein.

Er schickte sie weg, um ein anderes Mädchen zu holen, aber es kam nur der Rausschmeißer, ein sechs Fuß großer und über zweihundert Pfund schwerer Neger, dem er ohne seinen Totschläger sicher nicht beigekommen wäre. Wie dem auch sei, seinen Hut hatte er bei dem mehr als übereilten Aufbruch verloren, sein Rock war zerrissen und sein Hemd blutig, wenn es auch nicht sein eigenes Blut war.

Unangenehm war außerdem, dass er, in diesem abenteuerlichen Aufzug aus dem Fenster des verrufenen Hauses springend, mitten in der sechsköpfigen Familie eines englischen Predigers gelandet war, die dann, weiß der Teufel, ausgerechnet auf der Northumberland von den Bahamas nach Kapstadt reiste, um die Kraft ihres Glaubens zur Abwechslung mal an afrikanischen Heiden zu erproben.

So wusste natürlich schon bald das ganze Schiff von seinem Entreakt, was ihm zwar im Hinblick auf Daniel Thompsons Ruf ziemlich egal sein konnte, aber seine weiteren Ermittlungen unnötig erschwerte.

48.

Er hörte Van Helmonts Mundharmonika schon auf dem schmalen Niedergang auf das zweite Achterdeck: Die letzten Takte von Dixie, dann Old & golden Slippers – der Arzt war offenbar bester Laune und empfing ihn mit der freudigen Anspannung eines Mannes, der sensationelle Neuigkeiten zu verkünden hat.

»Eine gute und eine schlechte Nachricht!«

»Zuerst die schlechte, bitte«, seufzte Gowers niedergeschlagen. »Und vorher, wenn’s geht, eine Zigarre!«

Der Arzt wartete, bis der Investigator seinen gequälten Hirnkasten in den wohltuend-dämpfenden Tabaknebel gehüllt hatte.

»Louis Vivés ist heute gestorben.«

»Schnell, die gute«, sagte Gowers.

»Na ja, ›gut‹ ist eigentlich relativ …«

»Hat er noch irgendwas gesagt?«

»Nein.« Auch Van Helmont zündete sich jetzt eine Zigarre an und blies genüsslich den Rauch an die Decke. Gowers’ Narbe begann zu jucken, und nach einer Weile sprang er nervös auf und fing ungeniert an, sich zu kratzen.

»Das wollte ich sehen!«, triumphierte der Arzt. »Die gute oder weniger gute Nachricht, ganz, wie Sie wollen: Vivés ist vergiftet worden!«

Das Jucken hörte schlagartig auf. »Ist das sicher?«

»Ich bin ziemlich sicher. Arsen. Über einen längeren Zeitraum, wahrscheinlich schon seit er an Bord ist.«

»Weiß Braddock davon?«

»Der Idiot? Nein. Der würde auch ein Messer im Rücken für eine natürliche Todesursache halten.«

»Wie kommen Sie auf Arsen?«

»Hab erst kürzlich eine Arsenvergiftung gesehen. Meine Mutter …«

»Oh! Mord?«

»Könnte man sagen, ja.«

»Wer war es?«

»Ein gewisser Abraham Lincoln. Sherman. Grant. Eine organisierte Bande sozusagen.«

»Ich verstehe. Wie können wir sichergehen?«

»Ich habe ihm ein paar Haare abgeschnitten. Verstehen Sie was von Chemie?«

»Nein.«

»Dann schauen Sie halt nur zu.« Van Helmont suchte aus einem seiner unzähligen Gepäckstücke einen Tiegel, eine Lupe und ein bestimmtes Chemikalienfläschchen heraus. »Eine Schwefelwasserstoffverbindung. Ich fürchte, es wird nicht besonders gut riechen.«

Der Arzt legte die dunkelblonden Haare, die er Louis Vivés über dem Ohr abgeschnitten hatte, in den Tiegel, goss ein wenig der Flüssigkeit darüber, die tatsächlich sehr unangenehm roch – vor allem in Verbindung mit dem Zigarrenrauch –, und erhitzte alles mithilfe einer Zuckerzange über der Kerze.

»Ist eigentlich nicht nötig«, sagte er, »geht aber schneller!«

Die Flüssigkeit verdampfte nicht in einzelnen Wolken, sondern als ein dünner, stinkender und sehr hartnäckiger Nebel. Nach fünf Minuten unablässigen Schwenkens und Rührens, bei dem Gowers allmählich schlecht wurde, hielt der Arzt mit einer rasch aus seiner Medizintasche hervorgesuchten Pinzette eines der Haare ins Licht der Petroleumlampe und sah es sich durch die Lupe eingehend an.

»Hm. Vier, fünf Wochen. Wie ich vermutet habe.«

Auch Gowers sah schon mit unbewaffnetem Auge, dass das Haar von der Spitze aufwärts fast weiß geworden und nur an der Haarwurzel für die Länge von vielleicht einem Zentimeter dunkel geblieben war.