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»Hallo, Kumpel!«, hatte der zu ihm gesagt, und eine riesige schwarze Pranke, stark wie ein Schraubstock, hatte sich um seine kleine Hand gelegt und sie geschüttelt, seinen ganzen Arm, seinen ganzen Körper geschüttelt. »Wir Kumpel müssen zusammenhalten gegen die Weiber«, hatte er gesagt, und Ben hatte genickt, aber gar nicht verstanden, wen oder was der Hauer, ein uralter Mann von fünfundzwanzig Jahren, eigentlich meinte.

Vor der Dunkelheit hatte er keine Angst, er hörte ja an dem leisen Scharren, Klopfen, Hämmern, das aus allen Wänden und sogar von oben herab zu ihm drang, dass er nicht allein war. Manchmal grollte es auch in der Erde, ein feines, sehr leises Knarren, Ächzen, Rieseln, das man nur deshalb hören konnte, weil es alle anderen Geräusche zum Verstummen brachte.

Er bekam jedes Mal eine Gänsehaut in den zehn, zwanzig, dreißig Sekunden, die dieses Geräusch dauerte. Nicht, weil er gewusst hätte, was das war, sondern weil er in solchen Momenten die Angst fühlen konnte, die aus allen Stollen und Schächten stieg, die Fahrstrecken entlangkroch und ihm von überallher entgegenschlug wie ein schlechter Geruch; bis die dreihundert angespannt lauschenden, lauernden Menschen im Berg zaghaft ihre Arbeit wieder aufnahmen.

Und so lernte Ben Williams, im Dunkeln zu sehen, und im Winter vergaß er manchmal, dass es eine Sonne gab.

53.

Das Phänomen beruhte auf einer erhöhten Lichtempfindlichkeit der Sehzellen selbst und ebenso auf einer vergrößerten Anzahl sogenannter »Stäbchen«, also jener Lichtsinneszellen, die an der Peripherie der Netzhaut das Dämmerungs-oder Restlichtsehen ermöglichen. Der Investigator war also kein Zauberer. Auch er konnte im Dunkeln keine Farben erkennen, und er konnte auch nichts fixieren, also beispielsweise nicht lesen. Aber er sah tatsächlich und selbst auf große Entfernungen in der Nacht oder in abgedunkelten Räumen Dinge, die für seine Mitmenschen schlicht nicht wahrnehmbar waren.

Als Kind hatte er sich darüber gewundert, dass die anderen nicht sahen, was er sah, und darunter gelitten, dass grelles Sonnenlicht ihm unerträgliche Kopfschmerzen verursachte. Die – für einen Angloschotten – seltsam mediterrane Angewohnheit, in den Mittagsstunden zu schlafen, ging auf diese Zeit zurück. Später, während der Jahre im Eis und auf den schneebedeckten Inseln, über denen die Sonne sechs Monate lang nicht unterging, entdeckte er, dass das Tragen eines Sichtschutzes aus Narwalhorn, in den schmale Sehschlitze eingeschnitten waren, sein Leiden linderte. Zurück in der Zivilisation tauschte er diese auffällige, archaische Konstruktion gegen eine runde Brille mit dunkelblauen Gläsern. Aber die Vorteile seiner seltsamen Fähigkeit überwogen. Es war schön, im Dunkeln zu sehen; das jagende Nachtgewölk oder das unwirkliche Schauspiel eines farblosen Regenbogens bei Mondlicht.

Als er zur See fuhr, teilte man schon dem Elf-, Zwölfjährigen die meisten Nachtwachen zu, weil er die Brecher an unbekannten Riffen früher sah, als man sie hören konnte. Einmal hätte die Mannschaft ihn allerdings fast grün und blau geschlagen, denn sein mitternächtlicher Ruf »Land in Sicht!« hatte das gesamte Schiff in flatternde Panik versetzt; Land, das ein Seemann mitten in der Nacht sieht, ist gemeinhin unerwünscht nahe. Sie hielten es also für einen üblen Scherz, da niemand außer ihm selbst – Schwarz wie im Bärenarsch! – irgendetwas erkennen konnte. McClure allerdings ließ Segel reffen, und als in der ersten Morgensonne voraus der Gipfel des Mount Pelée über Cap Saint Martin aufglänzte, begafften die Männer den Jungen wie ein Wundertier.

54.

Das Tier, das seine Mutter ihm geschenkt hatte, lebte in einem ganz anderen Land, sehr weit weg, auf der anderen Seite der Erde. Sein Körper war aus Holz, mit braunem Filz überzogen, seine spitzen Ohren waren aus Leder. Die Beine des Tieres waren sehr groß und sehr stark, seine Ärmchen dagegen dünn und klein. Aber am interessantesten war der riesige Schwanz. Der Schwanz war nicht aus Holz, war beweglich, ein kleiner, länglicher Filzbeutel, mit Sägespänen gefüllt.

Auf dem Bauch hatte das Tier eine Tasche, in der ein Penny gewesen war, an Weihnachten. Jetzt war sie leer. In Wirklichkeit, hatte seine Mutter erzählt, trug das Tier in dieser Tasche sein Baby spazieren. Ben stellte sich das sehr lustig vor, vor allem für das Baby natürlich. In dem weichen, dunklen Beutel liegen, am warmen Bauch der Mutter, und je nach Laune den Kopf hervor-und der anderen Seite der Erde die Zunge herausstrecken!

Er nannte es Belly. Es war ein wunderbares Spielzeug. Jane hatte ihm anfangs verboten, es mitzunehmen, aber er hatte so lange gequengelt, bis sie schließlich nachgab und Belly in sein Hemd steckte, wo es dann warm an seinem eigenen Bauch lag. So war er nicht mehr allein im Dunkeln, und er stieß die Tür jetzt meist mit den Füßen auf und zu, holte Belly heraus und unterhielt sich mit ihm über das ferne Land, weit im Süden, wo es das ganze Jahr über nicht Winter wurde. Er flüsterte und kicherte, und manchmal lachte er laut, wenn er sich vorstellte, wie Tiere und Menschen da unten durch die Gegend hopsten, oder jedenfalls hatte seine Mutter ihm so was erzählt.

Ben war das einzige Kind, das unter der Erde lachte.

Trotzdem hörte er sie kommen, die Strecke heraufkeuchen. Gleich würde seine Mutter »Tor!« rufen, er würde die Wettertür weit aufmachen, und sie würde lächeln und ihm eine kleine Rechenaufgabe stellen, wie jedes Mal. Obwohl er noch nicht sechs Jahre alt war und noch nicht richtig lesen konnte, war er in der Welt der Zahlen mit Janes Hilfe sogar schon bis zu den einfachsten Brüchen vorgedrungen. Es war ein Spiel für ihn, ein Spiel, bei dem man die Welt nicht brauchte, nichts, außer Vorstellungskraft. Zuerst stellte er sich immer die Finger seiner Mutter vor, mit denen sie ihm das einfache Zählen beigebracht hatte. Inzwischen benutzte er in seinem Kopf zusätzlich auch die seltsamen arabischen Zeichen, die sie ihm aufgemalt hatte. Nur die Null bereitete ihm noch eine Weile Schwierigkeiten, weil er sich nichts nicht vorstellen konnte.

Er registrierte das fremde Geräusch, beinahe ehe er es wirklich hörte. Ein Rutschen, Poltern, Anschlagen und dazwischen den verzweifelten Ruf »Ben! Ben!«. Darüber ein schriller, fast surrender Ton, der nicht endete, auch als alles vorüber war: das Schreien des fremden Mädchens, Helen, die mit beiden Beinen unter den wegrutschenden Wagen geraten war und mitgeschleift wurde.

Ben wühlte sich wie ein vor Angst rasendes kleines Tier den engen Gang hinunter und sah ein Bild, das ihn sein Leben lang verfolgen würde. Seine Mutter hing merkwürdig verdreht im Geschirr, kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind, strampelte, wand sich und wurde doch langsam rückwärts, nach unten den Gang hinuntergezogen, als ob etwas Lebendiges an ihr zerrte und riss.

Jane krallte sich in Boden und Wänden fest, bis ihre Finger bluteten, riss sich die Haut von Knien, Schienbeinen, Armen und fühlte doch nur, wie die Luft aus ihren Lungen gepresst wurde von dem ungeheuren Gewicht. Dann hatte Ben ihre Hand erreicht, dann die Stricke, die sie an diesen langsamen, qualvollen Tod fesselten. Aber er war erst fünf Jahre alt und hätte diese Last niemals allein halten können, so verzweifelt er es auch wollte und so wahnsinnig er es versuchte, wenn nicht Beth, von Mary-Ann alarmiert, sich von unten mit aller Kraft gegen den hochbeladenen Hund geworfen hätte.

Als alles vorbei war, als der Wagen mit blutigen Rädern oben in der Strecke stand, die Männer den Kopf schüttelten – »Blöde Fotzen!« – und Jane die Schmerzen zu fühlen begann, weinte und schrie Helen immer noch. Kein Zureden und keine Ohrfeige konnten sie beruhigen, und ihr Schreien durchschnitt die Luft wie ein Messer, schnitt tief ein in Seelen und Nerven, bis Ben ihr sein Känguru schenkte. Da wurde sie still und betrachtete nur noch verwundert das komische kleine Wesen.