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»Entschuldigung, General …«

Ha, General, dachte Cockburn, nicht Sire oder Kaiserliche Majestät! Noch ein Glas Rum.

»Es wäre nicht richtig, wenn ein Mitglied der Mannschaft mit den Herren der Admiralität vom gleichen Tisch isst.« Der Bootsmann sagte das, als sei es eines der Zehn Gebote, nicht umzustürzen, und Cockburn bewunderte den Kerl für diese fabelhafte Haltung. Wahrhaftig, ein echter Sohn des John Bull! Und heute Abend sinnlos betrunken.

»So?«, sagte Napoleon langsam. »Na ja, da kann man natürlich nichts machen. Dann also nur wir beide, in meiner Kajüte. Sagen wir um acht?«

Der Boden um den Admiral wankte, der Horizont drehte sich. Der Kaiser der Franzosen würde mit einem Bootsmann zu Abend essen und ihn, ihn, den ranghöchsten britischen Offizier, Vertreter seines siegreichen Königs auf diesem Ozean, dieser Erdhalbkugel, den Obersten der Oberen, an seiner reich gedeckten Tafel sitzen lassen wie einen Vollidioten! Die Zeitungen würden es bringen, die Geschichtsbücher …

»Entschuldigung, Sire, General Bonaparte«, stammelte Cockburn, in den Grundfesten seines Denkens erschüttert, »ich glaube, wir können in diesem Fall eine Ausnahme machen und diesen braven Mann in unserer Mitte dulden.«

Die Sache war binnen Minuten auf dem ganzen Schiff herum, tausend Männer sprachen von nichts anderem mehr.

Natürlich, er war immer noch Little Boney, das Ungeheuer, mit dem schon ihre Mütter sie erschreckt hatten, wenn sie ihren Teller nicht leer essen wollten. Der widerliche Emporkömmling, der ganze Länder dem Erdboden gleichmachte, der tausendfache Mörder von Frauen und Kindern. Aber er war auch der Mann, der die Prügelstrafe in der französischen Armee abgeschafft hatte, der symbolisch den Stock eines Korporals auf seinem Knie zerbrach. Der bei Arcoli seinen verhungernden Männern gesagt hatte, dass jeder, jeder von ihnen den Marschallstab im Tornister trüge. Le petit Caporal, vor dem seine Soldaten eine lebende Mauer gebildet hatten, als er sich auf der Brücke von Lodi zu weit ins Feuer der Österreicher gewagt hatte, in dessen Diensten ein Bauernjunge, Joachim Murat, vom einfachen Reiter bis zum König von Neapel aufgestiegen war!

Ein seltsamer Glanz trat in die Augen der britischen Matrosen und Mannschaften, wenn sie die kleine Gestalt in ihrem grünen Mantel an Deck der Northumberland herumstapfen sahen. Und Admiral Cockburn, der sich in seinen schlechteren Träumen schon mit verbundenen Augen, gefesselten Händen und einer unangenehm kitzligen Säbelspitze im Rücken auf einer Planke über dem Wasser stehen sah, fragte sich wieder einmal, was ganz Europa sich fragte.

Dieser Mann hatte zwanzig Jahre lang Frankreich, Spanien, Italien, Holland, Preußen, Österreich, Russland und natürlich Ägypten ausgeplündert. War nichts davon übrig? Wo war der immense Reichtum Napoleons geblieben?

Und was könnte er schlimmstenfalls an Bord dieses Schiffes alles damit anfangen?!

58.

Gowers hatte ihm auf den Meter genau die Stelle bezeichnet, an der er sich direkt unter der mittleren der drei Kabinen befinden würde, in denen die ominösen Inder schliefen, wohnten und aßen, ohne sich seit Portsmouth irgendjemandem zu zeigen. Er hatte sogar seine Schrittlänge gemessen.

»Wie, Sie wissen nicht, wie groß Ihre Schritte sind?! Woher wollen Sie dann wissen, wie schnell Sie von hier nach da kommen? Wo Sie sind, wenn Sie nichts sehen können? An was orientieren Sie sich bloß?«, hatte der Investigator kopfschüttelnd gefragt. Seit frühester Kindheit war er gewohnt und hatte er von seiner Mutter gelernt, seinen Körper als Maßeinheit zu benutzen. So zählte er auch, fast schon unbewusst und während er ganz andere Dinge in seinem Kopf bewegte, seine Schritte, registrierte Kurven, Ecken, Winkel auf seinem Weg wie ein Automat, und konnte auf diese Weise auch in gänzlich unbekannten Gebäuden oder Städten bemerkenswert zuverlässig einschätzen, wo er sich befand – jedenfalls im Verhältnis zu den Orten, an denen er schon gewesen war.

Van Helmont hatte allerdings nur gemurmelt: »Ich mache immer Licht, wenn ich nichts sehen kann, und das hat meiner Orientierung auch nie ernsthaft geschadet.« Aber Gowers hatte schon sein Rollmaß hervorgeholt und begonnen, den Mann und seine Bewegungen auszumessen.

Der Arzt musste also eigentlich nur seine Schritte zählen. Aber jetzt, weit nach Mitternacht und im Bauch des riesigen alten Schiffs, zog er es doch vor, eine Handlampe zu entzünden, kaum dass er das Schott zum Heckstauraum hinter sich gebracht hatte. Sofort sprangen merkwürdige Schatten auf, und Van Helmont hätte geschworen, dass sich einer davon bewegt hatte, aber er schrieb es dann seiner Nervosität zu. Man legt schließlich nicht jeden Tag einen Schwelbrand.

Hier unten war sogar die Luft alt. Er musterte die geteerten Planken, das schwere Gebälk der Spanten und dachte unsinniges Zeug. Wann seid ihr gewachsen? Wo seid ihr gewesen? Was habt ihr gesehen?

Das Holz knackte und knarrte feindselig unter seinen Schritten, und dabei beschlich ihn das unwirkliche Gefühl, dass das Schiff wusste, was er vorhatte. Weit unter seiner wissenschaftlichen Vernunft, seiner langen Erfahrung mit den natürlichen und sichtbaren Dingen flüsterte eine dünne, hohe Stimme, dass auch Schiffe eine Seele haben, dass sie schreien im Sturm und stöhnen im Untergang. Und zum ersten Mal, seit er an Bord war, wurde er sich der namenlosen Tiefe unter seinen Füßen bewusst.

Wie tief war der Atlantik hier? Zweitausend, dreitausend Meter? Und unten die düsteren, unbekannten Gebirge; scharfe, unsichtbare Grate, die die sinkenden Schiffe zerbrachen auf ihrem Weg in noch tiefere Täler, dunklere Schluchten bis hinunter zum Grund, bedeckt mit dem Urschlamm lichtloser Äonen …

Die Vorstellung gruselte ihn wie ein kleines Kind.

Dann siegte der Mediziner in ihm, und dessen gewohnt ruhige Stimme erinnerte ihn mit trockener Ironie daran, dass einem Ertrinkenden nach den ersten zwei, drei hässlichen Metern alles Weitere ziemlich egal sein konnte. Dennoch räumte er, an der bewussten Stelle angekommen, alles leicht entzündliche Material, Tuchballen, Kleiderkisten beiseite, um von der Northumberland nicht mehr als unbedingt notwendig zu verbrennen.

Er fand einen Sack mit Hafer, der ihm für seine Zwecke ideal zu sein schien, schlitzte ihn auf und befeuchtete den Inhalt sorgfältig mit dem Wasser aus der mitgeführten Feldflasche. Spickte ihn dann mit den ölgetränkten Lumpen, in die er mehrere seiner Socken verwandelt hatte, und fügte hier und da noch einen Schuss Schwefelwasserstoff hinzu, als sei es die Verzierung auf einer Torte. Stolz betrachtete er sein Werk, als ein Geräusch, das er sich unmöglich eingebildet haben konnte, ihn zusammenfahren ließ.

In Sekunden sprang ihn wieder das unheimliche Gefühl an, dass Augen auf ihn gerichtet waren. Ratten, dachte er, Katzen! Aber die Haare standen ihm trotzdem zu Berge, als er mit ausgestrecktem Arm den stickigen dunklen Raum mit seinen vielen Verstecken ausleuchtete und sich schlagartig darüber klar wurde, dass man ihn dabei immer noch weit besser sehen konnte als er … was auch immer!

Van Helmont atmete tief durch.

Das nächste Schiff zündet er selber an, dachte er, sah auf seine Taschenuhr und ließ dann ein brennendes Zündholz auf die vorbereitete Brandstätte fallen. Im gleichen Moment hörte er ein schleifendes Geräusch unmittelbar hinter sich, und nun war kein Halten mehr. Mit Sätzen und Sprüngen, die jeder exakten Schrittabmessung Hohn sprachen, schoss nicht der Arzt und Wissenschaftler, sondern der kleine Francis Van Helmont davon, dem vor vierzig Jahren im tiefen Süden von Alabama eine schwarze Amme die seltsamsten Schauergeschichten erzählt hatte.

59.

Oben klappte alles wie am Schnürchen. Kaum fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit roch Gowers die ersten Wolken von Rauch und Schwefelwasserstoff. Er wartete vorsichtshalber noch eine kleine Weile, dann donnerte er mit dem Schreckensruf »Feuer! Feuer!« an alle Kabinentüren der ersten Klasse.