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Und wieder zu den trostlosen Felsen gewandt, diesem düsteren Schlackehaufen mitten im Atlantik, murmelte er mit wilder Verachtung: »Niemand wird je wieder deinen Namen sagen, hören oder lesen, ohne an meinen zu denken!«

»Und umgekehrt«, hätte seine Mutter gesagt.

68.

Georgetown war eine der Städte, mit denen die Kolonialmacht England der Welt – also Frankreich, Holland, Spanien und Portugal – am Anfang des 19. Jahrhunderts signalisierte: Wir sind da. Eine Art Eintragung im Grundbuchamt der südamerikanischen Geschichte, nicht schön, nicht besonders sinnvoll, nicht einmal zweckmäßig, aber eben vorhanden.

Der Einzige, der sich darüber ehrlich gefreut hatte, war George III. gewesen, aber der freute sich auch darüber, dass man sein Porträt auf Porzellantassen malte. Wie Alexander der Große!, dachte er und träumte von lauter kleinen Georgetowns überall auf der Welt, wo seine roten, gelben, schwarzen und braunen Untertanen ihren gütigen weißen Vater bei jedem anständigen Heißgetränk vor Augen hätten.

Sein »Alexandria Nova« lag an der Mündung des Demerara, jedenfalls hatten die ersten britischen Geografen den Namen so verstanden, als sie die Eingeborenen danach fragten, und nach fünfzig Jahren hatte die Stadt immerhin ein Opern-, ein Krankenhaus, einen botanischen Garten und eine öffentliche Bibliothek. An die Pforten dieses noch eher bescheidenen Instituts klopfte John Gowers und fragte einen herbeischlurfenden Bibliothekar fortgeschrittenen Alters: »Halten Sie Londoner Zeitungen?«

»Natürlich, Sir. Die Times, den Mirror, den Spectator und äh …« Verlegenes Hüsteln. »Punch, Sir. Wir sind auch auf einige französische, deutsche, spanische und nordamerikanische Blätter abonniert.« Das weißhaarige alte Männlein holte tief Luft, um die entsprechenden Titel aufzuzählen, aber Gowers kam ihm zuvor.

»Nicht nötig, vielen Dank. Also bitte Times, Mirror, Spectator und Punch

»Schweben Ihnen besondere Ausgaben vor, Sir?«, fragte das Faktotum, während er Gowers durch einen Korridor mit zimmerhohen, wohlgefüllten Bücherregalen in einen kleinen Lesesaal führte, dem seine intensive Nichtbenutzung an den entsprechenden Staubschichten anzusehen war.

»Die Ausgaben von April bis September 1865«, sagte Gowers und betrachtete amüsiert seinen Führer, der sich links und rechts an den Regalen nahezu entlanghangelte wie ein besonders landkranker Seemann. Dabei gemächliche Blicke über den versammelten Bücherschatz gleiten ließ und bisweilen: »Ah. Ah!«, murmelte, als hätte er einen alten Bekannten entdeckt.

Gowers kannte derartige Absonderlichkeiten schon von verschiedenen New Yorker Bibliothekaren und fragte sich, wie diese besondere Spezies Mensch es eigentlich fertigbrachte, ihre speziellen Eigenschaften quer durch die Welt und längs durch die Jahrhunderte zu vererben. Mit geschlechtlicher Fortpflanzung konnte es wenig zu tun haben, vermutlich war es eher eine Art Ansteckungskrankheit, die von einem allzu intimen Umgang mit Druckerzeugnissen herrührte.

Als hätte der alte Mann seine Gedanken gelesen, fragte er unvermittelt: »Interessieren Sie sich für Naturgeschichte, Sir, 4–9/65? Ich könnte eine fast druckfrische Ausgabe von Humboldts Entwurf einer physischen Weltbetrachtung empfehlen. Fünf Bände, eben erst herausgegeben.«

»Nein, danke.«

»Hmm«, brummte der Bibliothekar mit einer Spur »Ichkrieg-dich-schon-noch« in der Stimme. »Ist auch auf Deutsch. Eine grässliche Sprache. Aber wie wär’s mit Chambers Vestiges of the Natural History of Creation

»Wirklich nicht, vielen Dank.«

»Oder vielleicht Darwin? Wir haben The Origin of Species in der neuesten Ausgabe …«

»Bitte nur: Times, Mirror, Spectator und Punch. 4–9/65!«

»4–9/65«, murmelte der Bibliothekar enttäuscht und verschwand kopfschüttelnd hinter einigen Regalen, die sein Magazin darstellten. Nach weniger als einer Minute war er wieder da und legte zwei dicke Bücher vor Gowers auf den staubigen Tisch.

»Lyells Principles of Geology«, sagte er, und es klang wie eine Vorstellung. »Nur so zum Blättern, während Sie warten.«

»Vielen Dank«, sagte Gowers und bedauerte, hergekommen zu sein. Erst recht, als der Verrückte nach knapp zehn Minuten mit sechs schweren Foliobänden im Arm schwankend an seinen Tisch trat.

»Lavoisiér, Œuvres Complètes, Paris 1864«, sagte er stolz. »Das ist nun wirklich die pièce de résistance für jeden, der sich mit Naturgeschichte beschäftigt!«

»Ah ja«, erwiderte Gowers, als er aus der aufgewirbelten Staubwolke wieder aufgetaucht war. »Und wenn sich nun jemand partout mit Zeitungen beschäftigen will, sagen wir: Times, Mirror, Spectator…«

»Und Punch«, sagte der Bibliothekar unendlich verlegen, »4–9/65, jaja, Sir. Wir haben sie, wir haben sie. Aber ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass diese Ausgaben momentan zum Binden gegeben sind.«

Er sagte das so, als ob jemand verstorben, aber noch nicht beerdigt worden sei, sodass er einerseits keine Adresse mehr hatte, andererseits aber auch noch keinen Grabstein sein Eigen nennen konnte.

»Aber hier, Sir«, trumpfte er dann wieder auf und zog ein Buch aus der Hüfte, als sei es eine Handfeuerwaffe, »Darwins Zoonomia

Gowers sah den Mann sprach-und ratlos an, und der Bibliothekar flüsterte ihm zu: »Unter uns, Sir. Er weiß in vielen Punkten mehr als sein Enkel! Ich werde Ihnen schnell noch die anderen drei Bände holen!«

Der Investigator erwischte mit einer blitzschnellen Bewegung gerade noch den Jackenzipfel des Männleins. »Wie lange wird das Binden dauern?«, fragte er.

»Oh, gar nicht lange, Sir, höchstens drei bis vier Wochen. Bis dahin haben wir genug Lektüre für Sie!« Das Faktotum schien nicht im Geringsten überrascht zu sein, dass er festgehalten wurde, und sah aus wie ein Mann, der sich mit Geduld und Geschick schon vielen ähnlichen Griffen entwunden hatte. Kaum auf freiem Fuß, war er denn auch schon wieder unterwegs in die unerschöpflichen Tiefen naturhistorischer Weisheit. Gowers stand auf.

»Wie heißt der Buchbinder?«

»Darwin«, schnurrte der Bibliothekar hinter seinen Regalen vergnügt, »Erasmus Darwin. Ich wusste ja, dass Sie sich für Naturgeschichte interessieren!«

69.

Ihre eigenen Erfahrungen waren bald ausgeschöpft, und Jane begann, sich umzuhören. Das war schwieriger, als sie gedacht hatte, denn wenn sie direkt fragte, wurden die Leute misstrauisch, und wenn sie nicht direkt fragte, wusste niemand, was sie eigentlich wissen wollte. Oder warum.

Nur mit Beth sprach sie offen. Nicht nur über das, was sich ändern müsste, sondern auch darüber, wie es sich ändern müsste. So sprachen sie über Grubenausbau, Streckenhöhe, Wetterschächte, kürzere Schichten, höhere Löhne, Waschräume, Kinderbetreuung – bis sie selbst lachen mussten, weil sie sich vorkamen wie zwei Gänschen, die eine Hochzeit planen. Beth erzählte auch von den Gerüchten, die in den Minen am Tyne umliefen, von einer geheimen neuen Organisation unter den Arbeitern, einer Union oder Gewerkschaft, die stark genug wäre, den Grubenherren und Fabrikbesitzern die Stirn zu bieten.

Mutter Irvine, die dabeisaß und nähte, schimpfte sie jedes Mal aus, wenn sie an diesem Punkt angelangt waren. »Glaubt ihr denn, ihr seid die Ersten, die so was wollen? Ich habe die Ludditen hängen sehen, in Newcastle. Raben hatten sie auf den Schultern, die fraßen ihre Augen!«